twitter instagram linkedin rss

 

Soziale Infrastruktur in Ostdeutschland

- in: politics society

Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg hat die AfD Rekordergebnisse erzielt. Warum aber werden die Nazis in den Ostdeutschen Bundesländern gewählt?

Da gibt es mehrere valide Erklärungsansätze, die allesamt nicht rechtfertigen, Nazis zu wählen. Aber ich glaube, es hilft, sich die Lage etwas detaillierter anzusehen.

Infrastruktur

Wer sich die Ergebnisse der Europawahl im Mai genau anschaut, sieht, dass die AfD nicht perse in Ostdeutschland stärker ist als in Westdeutschland (so hat sie mehr Prozente in Gelsenkirchen als in Potsdam, Jena, Leipzig oder Rostock bekommen).

Die AfD ist nicht perse in Ostdeutschland stärker als in Westdeutschland, sondern vor allem in strukturschwachen Regionen stark - und das sind vor allem die ländlichen Regionen in Ostdeutschland. Strukturschwach bedeutet aber auch nicht perse ländlich. Gelsenkirchen ist ja selbst eine Großstadt. Sie hat wie viele Städte im Ruhrgebiet mit hohen Arbeitslosenzahlen und dem Rückgang der Bergbau-Industrie zu kämpfen. Der “Zukunftsatlas” sieht Gelsenkirchen auf den Platz 371 von 401 Landkreisen in Deutschland. (Das ist der 3. schlechteste in Westdeutschland).

Westdeutschland ist im Schnitt stärker besiedelt als Ostdeutschland, was u.a. Infrastruktur leichter finanzierbar macht. (Je mehr Menschen mit einem Zug fahren, je einfacher sind die Betriebskosten gedeckt.) Und die ländlichen Räume in Westdeutschland sind stärker suburbanisiert als in Ostdeutschland. Daher ist der Mangel an Infrastruktur in Westdeutschland häufig weniger tragisch als in Ostdeutschland - die Menschen kommen einfacher in Gegenden mit besserer Infrastruktur.

Selbst Großstädte wie Chemnitz, Dresden oder Magdeburg, in denen die AfD starke Ergebnisse hat, sind beeindruckend abgeschnitten. Nach Chemnitz oder Magdeburg fährt kein ICE, nach Dresden nur einer. Auffallend dabei ist auch: die AfD hat im Umland dieser Städte durchweg noch mehr Stimmen bekommen, als in den Städten selbst.

Mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR sind weite Teile der Wirtschaft zum Erliegen gekommen. Millionen Menschen innerhalb kurzer Zeit in den Westen gezogen. Dort gab es Arbeit. Gut aufgearbeitet hat dieses Phänomen Zeit Online. Besonders tragisch: es sind vor allem die Jungen, gut Ausgebildeten, die wegziehen. Es bleiben vor allem Alte. Vor der Wende war der Altersdurchschnitt im Osten niedriger als im Westen. Heute ist es andersherum. Die “Trendwende”, dass inzwischen mehr Menschen aus Westdeutschland nach Ostdeutschland ziehen, beruht vor allem darauf, dass ein paar Großstädte im Osten (Leipzig, Rostock, Jena) und der Speckgürtel von Berlin wächst (Falkensee, Oranienburg Bernau).

Jugend

Mit den jungen Menschen gingen und gehen immer noch diejenigen, die primär das Sozialleben ausmachen. Diejenigen, die Feste organisieren und feiern, die Vereine aufbauen und sich darin engagieren. Diejenigen, die sich eher mit Kunst und Kultur beschäftigen. Vor allem diejenigen, die sich mit Neuem beschäftigen, mit Globalisierung, Digitalisierung und der Klimakrise. Diejenigen, die potentiell eher neue Unternehmen aufbauen. Diese Bevölkerungsschicht fehlt auf dem Land und “überlässt” damit gewissermaßen das Land den Gestrigen. Klassischer Braindrain.

Das gerade die jungen Menschen in Sachsen die AfD wählen, überrascht mich wenig.. Die meisten jungen Menschen gehen weg, sobald sie können. Die, die bleiben, tun es oft aus Überzeugung. Der Weggang der jungen Menschen liegt zum Teil an mangelnder Infrastruktur und fehlenden guten Arbeitsplätzen. Oft aber ist es inzwischen auch Flucht. Flucht vor den Nazis, vor Übergriffen, Mobbing und Hetzjagden. Flucht, weil die Breite der Gesellschaft LGBTIQ-Menschen, Menschen anderer Hautfarbe oder auch nur andersdenkender Menschen nicht vor Nazis schützt. Es sind nicht alle Menschen in Ostdeutschland Nazis, aber wenn es Nazi-Übergriffe gibt, wird sich oft weg geduckt und weg geguckt. Bloß nicht selbst ins Visier der Nazis gelangen. Vielleicht sogar besser noch mitmachen, dann ist man vor den Nazis sicher. “Was ist schon dabei ein Flüchtlingsheim anzugreifen? Die Polizei macht eh nichts, bei den Nazis bin ich sicher.” Möchtegern-Mitläufer, die sich in ihrer Radikalität gegenseitig überbieten und damit selbst zu Nazi-Anführern werden.

Gesellschaftsleben

In der DDR wurde die Kirche bekämpft. Ostdeutschland ist noch heute das atheistischste Gebiet Europas (sagt eine Studie der NORC Organisation der Uni Chicago. Religion ist für viele Menschen ein Anker. Eine Gebilde, die in grundlegenden Lebensfragen Antworten gibt. In der DDR wurde diese Aufgabe von Partei, FDJ und den Gewerkschaften übernommen. Seit dem Zusammenfall der DDR klafft hier eine große Lücke. Eine Lücke, die rechtsradikale gerne für sich nutzen. Mitte der 2000er gab es viel Aufregung um die Schulhof-CDs der NPD - und deren Jugendarbeit. Gruppierungen wie diese gehen gezielt in die Lücken und bieten ein Sozialleben, das junge Menschen in Ostdeutschland sonst nicht bekommen. Was in Westdeutschland die Pfadfinder sind, erfüllen in Ostdeutschland oft rechtsradikale Kameradschaften. Sie gehen gezielt in Sportvereine und indoktrinieren Kinder und Jugendliche:

Ich habe in meiner Jugend in Sachsen-Anhalt erlebt, wie Neonazis vor allem über Fußballvereine die Wähler schon im Kinderalter rekrutiert haben. Da kam der Coach vor den Kommunalwahlen in die Kabine und sagte „Jungs, am Sonntag bitte die NPD wählen“.

— Shahak Shapira (@ShahakShapira) May 27, 2019

Es gibt in Ostdeutschland keine Volksparteien. Die gab es seit der Wende auch nie. Die CDU hat in Sachsen-Anhalt etwa 6600 Mitglieder. Die SPD etwa 3600. Das sind nicht mal 2 Mitglieder auf 1000 Menschen. Selbst die Linkspartei hat nur marginal mehr Mitglieder als die SPD. Hingegen hat die AfD in ihrer erst kurzen Existenz schon über 1000 Mitglieder und wächst beeindruckend schnell (während die anderen Parteien eher stagnieren, wenn nicht sogar Mitglieder verlieren). Quelle Damit fehlt ein wichtiges, erklärendes und zuhörendes Bindeglied zwischen den Entscheidungsträger*innen und der Bevölkerung. Es gibt quasi keinerlei Ortsverbände der Parteien auf dem Land. Die Politik findet “da oben” statt.

Eliten

Die Eliten Deutschlands sind westdeutsch. Auch die Eliten Ostdeutschlands sind westdeutsch (und weiß, männlich, cis und heterosexuell).

Es gibt keine überregional bedeutenden Medien in Ostdeutschland - das führt zu einer distanzierten Berichterstattung über Ostdeutschland. Johannes Hilje hat gut beschrieben, wie dieses Problem der AfD hilft. Und selbst die regional bedeutendsten Zeitungen gehören in fast ganz Ostdeutschland alleine dem MADSACK Verlag.

Wenn der Spiegel eine Woche vor der Wahl mit maximaler Arroganz alle Ostdeutschen zu Pegida macht, hilft das auch nur dem “Lügenpresse”-Gerede der AfD.

Guten Abend! Der neue SPIEGEL ist da. Digital ab sofort hier, morgen überall am Kiosk: https://t.co/vWJ4tFD94F pic.twitter.com/gmj2xHdMXG

— DER SPIEGEL (@DerSPIEGEL) August 23, 2019

In Westdeutschland gibt es ein politisch-gesellschaftliches Zugehörigkeitsgefühl. Es gibt Verbindung zu politischen Parteien, zu Religionsgemeinschaften, zu Stiftungen und Vereinen, zu Unternehmen, bundesweit relevanten Medien und wichtigen Forschungseinrichtungen. Wer ein Anliegen hat, findet im erweiterten Bekanntenkreis irgendwen mit Einfluss - egal ob in Medien, Wirtschaft oder Politik.

In Ostdeutschalnd ist dieses Zugehörigkeitsgefühl deutlich schwächer ausgeprägt. Es gibt nicht nur weniger gesellschaftliche Institutionen in Ostdeutschland, sondern auch die Entscheidungen werden seltener von Menschen aus der Region getroffen. Es erzeugt ein Gefühl eher verwaltet zu werden, als selbst agieren zu können. Dazu hat auch die Treuhandanstalt entschieden beigetragen.

Michael Seemann (@mspro) hat vor 2,5 Jahren eine neue Elite - die “globalen Klasse” - beschrieben. Diese Elite, diese Informationsarbeiter*innen sind es, die in Ostdeutschland kaum vorkommen. Das Internet ist langsam, die Bahnen kommen selten, die letzte Kneipe im Ort hat zu gemacht. Die moderne Elite kann dort nicht arbeiten, nicht leben. Sie ist für die Menschen in Ostdeutschland nicht erreichbar - und andersherum. Diese Elite hat auch keinen Bezug zu Ostdeutschland. “Durchfahrland” - da, wo der ICE nicht hält.

Es geht nicht darum, dass die Menschen in Ostdeutschland perse kein Geld haben (auch wenn Westdeutsche im Schnitt deutlich reicher sind als Ostdeutsche), sondern darum, dass Ostdeutschland tatsächlich in Teilen vom öffentlichen Leben der liberalen, progressiven, pluralistischen Gesellschaft abgeschnitten ist.

Identität und Geschichte

Es gibt nicht die Ostdeutsche Identität. Die DDR existierte 39 Jahre, die gut bewachte Grenze (inklusive der Berliner Mauer) 28 Jahre. Diese Zeit hat Menschen in Ostdeutschland geprägt. Aber sie ist zu kurz, um eine umfassende spezifisch Ostdeutsche Identität zu prägen. Es gibt einige Dinge, die in Ostdeutschland anders laufen, als in Westdeutschland. Aber nicht alles, was heute als “Ostdeutsch” gilt, wurde in der DDR geschaffen.

In diesem NewStatesman Artikel wird beschrieben, dass Konrad Adenauer 1955 überlegte Westberlin gegen Thüringen zu tauschen, denn die NSDAP bekamen schon seiner Zeit mehr Zustimmung im Osten als im Westen.

Sachsen war ein Schlüsselgebiet der NSDAP. Hier gab es den ersten GAU außerhalb Bayerns und deutlich überdurchschnittlich viele NSDAP-Mitglieder, wie auch deutlich überdurchschnittlich viele Menschen in angeschlossenen nationalsozialistischen Verbände.1

Das widerum ist historisch auch nicht so verwunderlich. Der letzte König Sachsens - Friedrich August III - war außerordentlich beliebt. Als er 1918 auf seinen Thron verzichtete, sei die Mehrheit der Bevölkerung dagegen gewesen, schreibt der Chemnitzer Geschichtsprofessor Frank-Lothar Kroll.2 1932 kamen 500.000(!) Menschen zur Bestattungszeremonie des letzten sächsischen Königs nach Dresden. Das sind mehr, als seinerzeit in Dresden überhaupt gelebt haben.3

Frank Richter, langjähriger Chef des sächsischen Zentrums für politische Bildung, schreibt in seinem Buch, dass 1989 in Dresden nicht nur Deutschland, sondern auch weiß-grüne Sachsenflaggen geschwungen wurden, teils mit königlichem Wappen - obwohl das Land Sachsen in der 1952 in der DDR aufgelöst wurde.4

Sachsen wurde als Kurfürstentum und Königreich über Jahrhunderte durchgehend von Monarchen regiert. Es gab einen umfassenden Hofstaat und empfand Sachsen waren Stolz darauf, ein eigenes Königshaus zu haben.

Der Schritt von der Verehrung der Monarchie als bester Staatsform zum Nationalsozialismus mit starken Führern ist klein.

Die DDR hat über die Themen Rassismus, Antisemitismus und Neonazis ausgiebig geschwiegen, denn worüber offiziell nicht geredet wird, das existiert auch nicht. Harry Waible hat akkribisch herausgearbeitet, das es in der DDR durchaus Rassismus, Antisemitismus und viele Neonazis gab.

Wenn Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht angesprochen wird, können diese Probleme auch nicht bearbeitet werden. Das ist, warum Kurt Biedenkopfs “Ostdeutsche sind immun gegen Rechtsradikalismus” so verheerend ist. Natürlich sind nicht alle Ostdeutschen Nazis. Es wählen ja nicht alle die AfD - sondern nur 1/4 der Wählenden. Wenn die Nichtwähler*innen dazu genommen werden, sind es nur noch so 1/6. Und auch nicht alle AfD-Wähler*innen sind Nazis. Sehr wohl aber haben alle Menschen, die die AfD wählen, kein Problem mit Nazis. Und das widerum ist ein massives Problem. Es geht ja nicht nur darum, ob alles Nazis sind, sonder auch darum, wer die Nazis unterstützt. Und wenn ein 1/6 der gesamten Bevölkerung die Nazis der AfD in Parlamente wählt ist das eine Katastrophe. Die Nazis brauchen nicht die Unterstützung der gesamten Bevölkerung. (Einen Teil davon wollen sie ja eh auslöschen). Es reicht, wenn es niemanden mehr gibt, der sich traut den Nazis in den Weg zu stellen.

Ich kann Gedankengänge einiger AfD-Wählenden nachvollziehen, die argumentieren, dass sie selbst kein Problem mit der AfD haben. In Ostdeutschland leben prozentual weniger Menschen mit Migrationshintergrund. Es wird schnell ein “mir doch egal, ob die gegen Ausländer hetzen”, weil niemand selbst betroffen ist. Und auch viele nicht bewusst Menschen mit Migrationshintergrund kennen. Sie wiegen in Sicherheit vor den Nazis und wollen mit der Wahl der AfD “der Politik einen Denkzettel verpassen”. Diese - sehr egoistische, aber in sich schlüssige - Argumentation, ist eine politische Bankrotterklärung. Menschen, die derart egoistisch argumentieren, wollen keine Demokratie. Sie wollen keine plurale Gesellschaft, keine politischen Diskussionen. sie wollen das starke Führer für Ruhe sorgen. Sie wollen national befreite Zonen und Naziregierung.

Und jetzt?

“Wehret den Anfängen!” ist zu spät. Es hat schon längst begonnen. Wir können Demokratietheorie-Debatten führen und weiter analysieren, wie die wenige (soziale) Infrastruktur in Ostdeutschland oft von Nazis beherrscht oder zumindest die Nazis darin toleriert werden. Aber die Analysen alleine machen noch nichts. Die produzieren nur bedrucktes Papier. Wie es wenig pluralistische Öffentlichkeit in Ostdeutschland gibt, ist ja eigentlich auch allen klar. Und ohne Öffentlichkeit, entsteht keine Demokratie, das ist auch keine neue Erkenntnis. Öffentlichkeit lässt sich nicht von außen erzwingen. Es bringt nichts, wenn die FAZ oder der Spiegel mehr “über den Osten” berichten. Das können die Menschen in Ostdeutschland nur selbst. Demokratie muss aus sich selbst heraus wachsen. Die Initiativen, die es gibt, können aber sehr wohl unterstützt werden. Sowohl die demokratischen politischen Parteien, wie auch zivilgesellschaftliches Engagement.

Wir müssen aufhören, die AfD als “bürgerlich” oder “konservativ” zu bezeichnen und ihrer Nazi-Propaganda damit weiterer Nahrung geben. Stattdessen sollten wir über Naziterror reden - insbesondere in Ostdeutschland und Sachsen. Und Nazis bekämpfen mit allen Mitteln, die die Demokratie gerade noch erlaubt.

Wir brauchen massiv mehr soziale Infrastruktur mit klarer Kante gegen Nazis. Wir brauchen Zufluchtsorte, die vor Nazis sicher sind, in denen Demokratie sicher ist und wachsen kann.

Bücherquellen:

  1. Günther Heydemann, Jan Erik Schulte, Francesca Weil (Hg.): “Sachsen und der Nationalsizialismus”, Vadenhoeck & Ruprech, Göttingen 2014 S. 45 (Auswertung der Parteistatistiken der NSDAP von 1935) 

  2. Frank-Lothar Kroll: die Herrscher Sachsens, München: C. H. Beck 2004, S. 306ff. 

  3. Frank-Lothar Kroll: die Herrscher Sachsens, München: C. H. Beck 2004, S. 318 

  4. Frank Richter: Gehört Sachsen noch zu Deutschland?, Berlin: Ullstein 2019, S. 67