Als schwuler Mann habe ich früh angefangen das Internet als Datingplattform zu nutzen. Wie sonst komme ich auf dem Land mit anderen schwulen Männern in Kontakt?
Seiner Zeit habe ich viel gechattet in verschiedenen Chatforen, aber auch auf PlanetRomeo (damals noch GayRomeo) habe ich mit vielen Menschen beeindruckend lange und interessante Gespräche geführt.
Neulich habe ich schon über Probleme des schwulen Datens gebloggt und im Nachgang auch von vielen Heteros ähnliche Probleme geschildert bekommen. Es scheint ein grundsätzliches Problem zu sein, dass sich mit dem Internet zwar Menschen für den Austausch von Körperflüssigkeiten finden lassen, aber nicht für eine Beziehung.
Warum?
Ein zentrales Problem, dass ich dabei wahrnehme, ist die exponierte Stellung von Bildern auf Datingplattformen. “No pic no chat” - und geantwortet wird gemeinhin nur Profilen, die die eigenen Wunsch-Modellmaße zeigen.
Josefine Matthey (@josefine) hat auf der openmind Konferenz 2015 in den ersten 20 Minuten ihres Vortrages “On the Internet nobody knows, you’re a dog?” herausgearbeitet, wie sich das Internet von einem Textmedium zunehmend zu einem Bild-, Gif-, und Videomedium verändert hat:
Ich glaube, das hat auch Online-Dating massiv verändert. Egal, welche Dating-Plattform ich öffne, es geht vor allem um (sexy) Bilder. Selbst OKcupid nehme ich zunehmend als Sexy-Bilder-Plattform war. Die erste und oft einzige Hürde, sich kennenzulernen, sind Bilder.
Für Menschen, die gerne unkompliziert Sex haben (und normschön sind), erfüllen sie genau diesen Zweck. Und ich finde das okay.
Es ist allerdings schwer bis zu dem Punkt zu kommen, an dem es um tatsächliches Interesse aneinander geht.
Ich möchte spannende Menschen über das Internet kennenlernen. Spannende Gespräche führen und durch Profile gucken, um zu sehen, wer ähnliche Interessen und Hobbies hat, wie ich. Mit wem ich auf persönlicher Ebene matche - und dabei finde ich Six-Pack und Dick-Pics eher hinderlich. Wenn ich Penisse sehen will, gucke ich Pornos. Ich will Menschen kennenlernen, nicht deren Körperöffnungen.
Selbst soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook - funktionieren inzwischen vor allem über das Einbinden von Bildern. Viele einst sehr spannende Profile sind in der Bilderflut untergegangen oder nehmen an dem Wettbewerb um die meisten Likes (und die Algorithmen bevorzugen Posts mit Bildern gegenüber Posts ohne Bildern) nicht mehr teil.
Und all die Bilder auf den Plattformen nehmen viel von der eigenen Fantasie, sich Dinge vorstellen zu können.
“Pics or it didn’t happen” ist eine Form des kollektiven Misstrauens. Wer von mir verlangt, mit Bildern meine Geschichte zu “beweisen”, glaubt mir nicht. Wie soll eine Freundschaft funktionieren, wenn Menschen sich gegenseitig misstrauen?
Was ich sagen will: ich wünsche mir eine Plattform, die keine Bilder erlaubt. Bilder-basierte Plattformen gibt es inzwischen viele. Wer sich kennengelernt hat, und Bilder austauschen will, findet dafür Lösungen. Zum ernsthaften Kennenlernen von Menschen, scheinen Bilder aber eher teil des Problems als Teil der Lösung zu sein.
P.S. Das neu gestaltete Blog hat keine Kommentarfunktion mehr. Fundierte Kommentare nehme ich vie e-mail entgegen.
Ich fühle mich der re:publica verbunden. 2010-2014 war ich immer da. 2015 habe ich ausgesetzt, 2016 war ich zur Abschlussparty da. 2017 war ich Dienstag für zwei Stunden da und fand es unerträglich. Wie auch einen Großteil der Dinge die ich online von der diesjährigen re:publica mitbekommen habe.
Bisher verstand ich die re:publica als Vernetzungsort für Blogger*innen und Netzaktivist*innen.
Der Netzaktivismus die letzten Jahre hat sich verändert - schon lange gibt es keine großen Demonstrationen mehr gegen neue Überwachungsvorhaben. Die Vorratsdatenspeicherung, die lange erbittert bekämpft wurde, wurde 2015 fast protestlos wieder eingeführt.
Blogs haben an Stellenwert verloren. Einige Blogs haben sich professionalisiert, werden vermarktet und können den Blogger*innen ein Einkommen generieren (mittels Werbung, bezahlter Vorträge, Buchverträgen, Spendenkampagnen etc.).
Quasi alle Zeitungen haben inzwischen auch Onlineportale. Es gibt kaum noch einen Grund, in seiner Freizeit ein Blog zu schreiben.
Was früher vor allem ein Hobby war, ist inzwischen ein Job geworden.
Menschen, die noch immer nur hobbymäßig ins Internet schreiben, gibt es so viele Social Media Kanäle, da wird völlig unklar, wofür eigentlich noch ein eigenes Blog irgendwo gehostet und gewartet werden sollte.
Manchmal sehne ich mich nach der Zeit zurück, in der Twitter (für mich) ein Netzaktivismus-Newschannel gespickt mit Links zu tatsächlichen Nachrichten (veröffentlicht vor allem in Blogs). Aber die Entwicklung selbst ist wie sie ist. Und das ist okay.
Auch die re:publica hat sich verändert. Ich finde sie unerträglich.
Wo früher Blogger*innen redeten, reden heute SEO-Menschen, “Influencer” und Bundesminister*innen. Daneben war das Programm weitgehend belanglos. Das mag ein bisschen daran liegen, die große “alle Menschen sind plötzlich im Internet”-Zeit schon 10 Jahre her ist und es darüber nicht mehr viel zu reden gibt. Die Weiterentwicklung des Internets ist zur Aufgabe von Großunternehmen geworden. Und die re:publica versteht sich offenbar nicht mehr als Plattform für User*, sondern als Marketingplattform für Unternehmen und Regierung.
Dabei wird Regierung eine Bühne gegeben, obwohl sie weiterhin Grund- und Freiheitsrechte beschneidet.
Die Stände auf der re:publica gehören (Groß-)Unternehmen, politischen Stiftungen und Landesvertretungen. Von Zivilgesellschaft oder Blogger*innen ist wenig zu sehen. Gefühlt war ich auf einem Ableger der CeBIT: eine Messe mit massiver Materialschlacht. Freibier und Sticker statt Inhalte.
Das Design der #rp17 war von Protestschildern dominiert. Die Protestschilder wurden zu Werbeschildern.
Ich kenne die Hintergründe dieses Falls nicht und kann auch kein Urteil über den Vorfall selbst fällen - aber, dass die Organisator*innen dazu keine Stellung nehmen, spricht nicht dafür, dass sie dieses Thema besonders ernst nehmen.
Der Code of Conduct ist schwach formuliert und offenbar gibt es genau eine Ansprechpartnerin. Andere Veranstaltungen haben Awareness-TEAMS.
Inklusion und sichere Orte werden nicht mit einem Text geschaffen, sondern mit Inklusion und sicheren Orten. Wo aber war die LGBTIQ-Lounge? Gab es einen Gebetsraum?
Oder überhaupt ein ruhiger Ort, der nicht von allen Seiten zugedröhnt wird?
Ich überlegte vorab, ob ich nicht in High-Heels kommen wolle. Physisch wäre mir sicher nichts passiert (mit den High-Heels bin ich 2,03m groß), aber ich wäre Vorzeigeobjekt geworden, wie “inklusiv” die re:publica doch ist. Ich wäre massiv fotografiert worden und sicher hätten sich auch Menschen über mich lustig gemacht, zumindest aber hätte ich einige merkwürdige bis herablassende Blicke geerntet. Vielleicht wäre das nicht passiert, aber das ist, wovor ich Angst hatte und warum ich Mittwoch nicht kam - und schon gar nicht in High-Heels.
In diesem Szenario hätte geholfen: Normalität - so viel Normalität, dass einzelne Menschen nicht mehr zu Vorzeigeobjekten werden - und Rückzugmöglichkeiten.
Und was war eigentlich mit dem Antisemiten, der Twitter zufolge über Stunden auf dem Gelände vor der Station geduldet wurde? Warum wurde nicht die Polizei gerufen? Wenn das schon kein*e Besucher*in macht, dann doch aber bitte die Orga!
Ich frage mich, was die re:publica erreichen will/wollte. Als was versteht sich die re:publica überhaupt? Und was war das Ziel für 2017?
Vielleicht stellen sich die Organisator*innen diese Fragen nicht.
Müssen sie auch nicht. Die Veranstaltung scheint finanziell auf soliden Füßen zu stehen.
Aber ich werde mir kein Ticket mehr kaufen. Für mich war es sicher die letzte re:publica.
Vor ein paar Tagen habe ich diesen Artikel “Together Alone - The Epedemic of Gay Loneliness” gelesen. Er ist komplex, vielschichtig, sehr lang (Lesezeit ~30 min) und sollte mit Vorsicht gelesen werden. Er ist voller Trigger (Suizid, Depression, Angstzustände, Einsamkeit, Verzweiflung, Drogenmissbrauch, …). Harter Stoff, aber auch die beste Analyse die ich je gelesen habe, warum Selbstmordrate und psychische Probleme bei schwulen Männern signifikant höher ist als bei heterosexuellen Männern.
In dem Artikel wird herausgearbeitet, dass diese Probleme nicht nur mit Homophobie und Mobbing erklärt werden können - denn selbst Männer die nie homophob angegriffen oder gemobbt wurden, immer ein unterstützendes Netzwerk hatten keine direkte Diskrimierung zu spüren bekamen, haben trotzdem überproportional viele psychische Probleme.
Es ist leicht, hier in fatalistischen Biologismus zu verfallen “Schwule sind halt anders und sie müssen damit leben”. In diesem Ton endet der Artikel auch. Aber je länger ich darüber nachdenke, je stärker bin ich davon überzeugt, dass der Artikel einen wichtigen Aspekt vernachlässigt. Ich versuche hier eine Argumentation zu dem Problem, die weitgehend auf meiner eigenen Lebenserfahrung und Gesprächen mit Freunden beruht und keine Allgemeingültigkeit beansprucht. Ich würde mich sehr über Rückmeldungen hierzu freuen, denn vielleicht ist meine Wahrnehmung zu wenig objektiv zu diesem Thema.
Signifikant höhere Raten an psychischen Problemen und Suizid bedeutet nicht, dass alle schwulen Männer dieses Problem haben. Ich glaube, es ist hilfreich, die Gruppe “schwule Männer” weiter zu unterteilen in “Männer, die gerne Sex mit Männern haben” und “Männer, die eine Beziehung mit Männern wollen”.
Ich behaupte die im Artikel beschriebenen Probleme treffen vor allem auf die Gruppe “Männer, die eine Beziehung mit Männern wollen” zu. Männer, die Sex mit Männern, aber keine Beziehung wollen, scheinen mir weitgehend nicht betroffen zu sein. Ich glaube auch, dass die Gruppe “Männer, die Sex mit Männern wollen” die größere der beiden Gruppen ist.
Es ist als Mann sehr leicht Sex mit einem anderen Mann zu haben. Dating Apps sind in der schwulen Community noch viel verbreiteter, als unter Heteros. Bars und Clubs für Schwule sind häufig auf Sex ausgerichtet. Viele von ihnen haben Darkrooms um sehr einfach und unkompliziert Sex haben zu können.
Männer, die eine Beziehung wollen, haben kaum Möglichkeiten, explizit nach einer Beziehung zu suchen. Die meisten Angebote für schwule Männer sind auf Sex ausgerichtet und kaum ein Mann will nicht auch Sex. (Mir scheint dies ein tendenziell fundamentaler Unterschied zwischen Männern und Frauen zu sein: Männer wollen mehr, unkomplizierten Sex als Frauen (dafür spricht u.a. die deutlich höhere Rate an sexuellen Übergriffen durch Männer als durch Frauen. Warum das so ist oder wo dieser Unterschied herkommt, lässt sich nicht in diesem Blogpost klären.))
Männer, die eine Beziehung wollen, haben die Wahl zwischen klassisch schwulen Angeboten (Bars, Dating Apps) die auf Sex ausgerichtet sind und Angeboten, die nicht auf schwulen Sex ausgerichtet sind und vor allem (auch) heterosexuelles Publikum ansprechen. Homosexuelle sind in der Minderheit. Egal wie akzeptiert diese Minderheit je sein wird, bleibt es dennoch immer merkwürdig in einer heterosexuell geprägten Gesellschaft mit Menschen des gleichen Geschlechts zu flirten. So lange ich mir nicht sicher bin, ob ein anderer Mann auch Interesse an Männern hat, werde ich diesen nicht darauf ansprechen. Die Chance einen Korb zu bekommen ist extrem hoch. Und so lange Homosexualität nicht vollständig akzeptiert ist, besteht auch immer die Gefahr nicht nur einen Korb, sondern auch einer homophoben Anfeindung ausgesetzt zu sein.
Die Frage ist also, wo Männer, die eine Beziehung wollen, diese auch finden können. Es gibt den unwahrscheinlichen Fall, dass sich aus einem Sexpartner eine Beziehung entwickelt. Das ist mir bisher ein einziges Mal passiert, dabei hatte ich in meinem Leben schon sehr viele Sexpartner. (Viele Männer, die Sex mit Männern wollen, wollen gar keine Beziehung)
Es gibt den etwas wahrscheinlicheren Fall, dass im Laufe des Lebens mit andere nicht heterosexuelle Männer begegnen, woraus sich eine Beziehung entwickeln kann. Das ist mir ein paar Mal passiert, aber die Chance sich mit einem anderen nicht-heterosexuellen Mann zu befreunden ist nicht all zu groß. Die Mehrheit der Männer ist nun mal heterosexuell - oder will zumindest keine homosexuelle Beziehung.
Mir scheint es so zu sein, dass die Gruppe an Männern, die eine Beziehung mit Männern will, zwischen dem Zahnrad “Sex mit Männern” und dem Zahnrad “heterosexuell geprägte Gesellschaft” zermahlen wird - und genau das führt zu den signifikant größeren psychischen Problemen, die der Gruppe “schwule Männer” zugeordnet wird, obwohl diese nur eine Untergruppe davon betreffen: nämlich die, die überhaupt eine Beziehung wollen.
Ich habe keine Lösung für dieses Problem, aber ich glaube, dass es hilft dieses Problem zu präzisieren, um überhaupt eine Lösung finden zu können.
Kommentare
von: zweifeln
Ja, Berlin ist die Konzentration an Menschen, die keine Beziehung wollen, sehr hoch - deutlicher höher als in allen anderen Orten, die ich kenne (und zumindest ein Gefühl dafür entwickeln konnten, wie viele Menschen überhaupt eine Beziehung wollen.)
Und klar, LGBT-Menschen ziehen deutlich eher in die Stadt um dem tendenziell eher homo-/transphoben Landleben zu entkommen.
Aber ob sich das tatsächlich normalisiert, weiß ich nicht. Wie in dem verlinkten Artikel beschrieben, sehe ich durchaus viele der Probleme aus der Szene selbst kommen. Mir fehlt, warum (und wohin) sich das “normalisieren” sollte. Für viele schwulen Männer existiert dieses Problem gar nicht. (Das ist jedenfalls meine Wahrnehmung.)
Was ich viel eher sehe ist, dass auch hetero Beziehungen zunehmend kurzlebiger sind und dass (hetero) Beziehungen insgesamt nicht mehr so oft gewünscht werden. Vielleicht hat Online-Dating insgesamt dazu geführt, dass jetzt einfach alle unkompliziert Sex haben können und Beziehungen insgesamt eine Seltenheit werden.
(Ich bin am überlegen über veränderte Beziehungen durch Online-Dating meine Bachelorarbeit zu schreiben. Aber das nur am Rande.)
von: @CK_eins
Mal Anmerkungen zum Eindruck von mehr oder weniger Außen: Mir scheint, dass es keine grundsätzliche schwule Gruppeneigenart zu sein scheint, dass keine Beziehungen gewünscht sind. Die Beobachtung/Erfahrung kann ich sehr wohl nachvollziehen. Allerdings scheint es da eine Art regionale Gewichtung zu geben. Was du beschreibst, springt in Berlin regelrecht ins Auge. In Cottbus hingegen, wo ich aufgrund von Freundschaften schon vor langer Zeit in beiden Welten unterwegs war, schien es mir zumindest überall um die mehr oder weniger gleichen Liebeleien und Beziehungskisten zu gehen. Im Grunde war es ziemlich egal, ob man da nun auf der nächsten Dorf-Disse oder im lokalen Queer-Lokal war. Die Trennung kam dann meiner Wahrnehmung nach schon eher durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zustande. In einer Hetero-Partnerschaft bestand das Ziel auf dem Land ja schon immer irgendwie platt gesagt im gemeinsamen Haus mit einer Kinderschar und der eigenen Ziege bzw. später dann Kleinwagen. Die Option eines gemeinsamen Haushalts war hingegen in homosexuellen Partnerschaften nur nach dem Überwinden riesiger Hürden hinzubekommen. Ich denke mir, dass daher so mancher diesen Weg lieber aus seiner Lebensplanung verbannt hat und dann in die große Stadt abdampfte. Vielleicht normalisiert sich das ja mit der Zeit, wenn es ohnehin kein großes Thema mehr ist. Das wird allerdings schon so ein bis zwei Generationen dauern, wie so vieles andere auch…
Ich frage mich seit längerem, was genau Glaube und Religion ist … und habe beschlossen, mir das von Leuten erklären zu lassen, die sich damit auskennen.
Und weil ich glaube, dass nicht nur ich das interessant finde, lasse ich ein Mikrofon mitlaufen und mache einen Podcast draus.
Anfangs will ich vor allem über die großen Religionen sprechen, aber ich finde auch kleine spirituelle Gemeinden sehr spannend.
Wer mir ihre/seine Religion (vor einem Mikrofon) erklären mag oder einen guten Vorschlag hat, wen ich fragen könnte/sollte, möge sich bitte melden.
Worum es in der Podcast-Reihe genauer geht, habe ich in dieser Nullnummer mit Lara Bokor (@sofakante) und Gerhard Anger (@tollwutbezirk) besprochen.
Es gibt die neue politische Initiative #brauchtBewegung. Sie will “für Gerechtigkeit und Demokratie” zur Bundestagswahl antreten.
Ich denke schon länger darüber nach, ob es nicht an der Zeit wäre, eine neue politische Bewegung zu starten, um dem Rechtsruck etwas entgegen zu setzen:
Manchmal glaube ich, es wäre an der Zei für eine neue politische Bewegung.
Und dann denke ich an das letzte gescheiterte Experiment.
— Gero Nagel (@zweifeln) January 7, 2017
Dies ist eine Manöverkritik. Ich finde die Idee wirklich gut, neue Bewegung in den Politikbetrieb zu bringen - aber nicht so.
Mir erscheint, als wäre den Organisator*innen von #brauchtBewegung nicht so richtig klar, wie Politik funktioniert. Die deutsche Piratenpartei hat durchaus viel bewegt - auch wenn (mit Ausnahme von @twena) nie in irgendeiner Regierungsverantwortung.
Der große Erfolg der Piratenpartei, war, dass alle Parteien gesehen haben, dass es ein Momentum für Netzpolitik gab. Transparenzgesetze wurden geschrieben, Internetzensur gestoppt und der Datenschutz hat eine neue europäische Verordnung bekommen.
Selbst die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung kam erst, als die Piratenpartei schon weitgehend bedeutungslos war. Das Druckmittel hatte sich aufgebraucht.
Die AfD hat gerade Bundespolitisch sehr viel Erfolg, weil alle Parteien meinen, dass sie mit deren Agenda Stimmen gewinnen könnten. Horst Seehofer scheint mit der CSU die AfD noch rechts überholen zu wollen, aber wie Michael Spreng schon im Mai 2016 schrieb, wird diese Strategie nicht funktionieren. Piratenanhänger wollten immer lieber Piraten wählen (bis sie sich selbst kaputt machten), AfD-Anhänger wollen ihr Original, die AfD, wählen.
Der Punkt ist: Wer die Deutungshoheit hat, kann Politik beeinflussen. Unabhängig von formalen Ämter oder Mandaten.
Erfolgreiche politische Organisationen entstehen aus Momentum heraus. Der Plan “wir wollen in den Bundestag” ist ein schlechter. Politische Ziele sind kein “wir wollen ins Parlament”, sondern sind “wir wollen $konkretesThema”. Wenn das Momentum da ist, verändert sich die Politik insgesamt - und dann ist der Zeitpunkt zu gucken, wie das politische Ziel am besten zu erreichen ist.
Wer von Anfang an gegen die anderen Partein antritt, macht sich diese zum Feind. Wer eine große Bewegung ist, wird von den Parteien umworben, weil alle die Stimmen wollen. Selbst für Wahlen anzutreten, halte ich erst für sinnvoll, wenn klar ist, dass die Bewegung von keiner vorhandenen Partei aufgenommen wird. Solange das nicht der Fall ist, sollte die Öffentlichkeit genutzt werden, um die vorhandenen Parteien in die eigene Richtung zu schieben.
Martin Oetting schreibt, dass #brauchtBewegung eigentlich das gleiche will, wie die SPD. Wenn dem so ist, halte ich es für sehr klug, dass sehr laut zu sagen und sich von der SPD einladen zu lassen. Katharina Barley arbeitet als Generalsekretärin gerade hart daran, die SPD zu öffenen, siehe #openSPD.
Mit Martin Schulz als Kanzlerkandidat hat die SPD einen klaren pro-Europäer, der ansonsten bundespolitisch noch recht unbeschrieben ist. Was seine Themen für den Wahlkampf sein werden, ist noch offen.
Wenn es gerade irgendwo eine relevante Option gibt, die deutsche Politik vom Rechtsruck zurück in die Mitte, vielleicht sogar nach links zu schieben, dann mit der SPD. Da kommt es auf uns an, die wir uns eine linkere Politik wünschen, laut und deutlich die SPD zu einem linken Kurs zu zwingen.
(Die Linkspartei mit Spitzenkandidatin und Russlandfreundin Sahra Wagenknecht, die offensichtlich eine Querfront mit der AfD gegen Merkel bilden will ist keine Option. Und auch die Grünen, die ihrer Vorsitzenden Simone Peter offen in den Rücken fallen, als diese rassistische Maßnahmen der Kölner Polizei anmahnt, scheinen gerade keine linke Politik machen zu wollen.)
Ich denke sehr viel über diese Frage nach und mir dazu fundierte Theorie. Politik, Recht, Bildung und Medien haben da sicher alle irgendwas mit gesellschaftlichen Wandel zu tun, aber wie gut sind die Theorien, die es dazu gibt?
Gibt es überhaupt fundierte Theorien, wie gesellschaftlicher Wandel funktioniert? (Mit so Phänomene wie dem Backlash oder dem Pyrrhussieg?)
Die Frage bewegt sich irgendwo zwischen Soziologie, Psychologie, Politik(wissenschaft), Geschichte, Jura und Kultur(wissenschaften). In den ersten fünf genannten Wissenschaften kenne ich mich kaum aus und überlege zu dieser Frage ein Barcamp (oder so) zu organisieren. Mir geht es dabei explizit um Theorien, wie gesellschaftlicher Wandel grundsätzlich funktioniert, unabhängig vom jeweils aktuellen Thema.
Bestände daran interesse und wenn ja, hätte wer Lust und Zeit, mir bei der Organisation zu helfen?