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Society


GmZ 002 - Katholizismus

- in: glaube ideas society

Was ist Katholizismus?

Thomas erzählt, was für ihn Katholizismus ist, wie er ihn auslebt, wie er zum Katholizismus gekommen ist und was er mit ihm verbindet. Auch, was für Probleme er mit der Katholischen Kirche hat und wie magisch so eine Messe sein kann.

Ich hab viel gelernt. Danke Thomas für deine Offenheit!


GmZ 001 - Buddhismus

- in: glaube ideas society

Was ist eigentlich Buddhismus?

Diese Frage habe ich Juliane gestellt und sie hat viel über den Buddhismus erzählt. Wie sie zum Buddhismus kam, was Buddhismus ist und wie sie ihn praktiziert.

Es ist etwas seltsam dieses Podcast-Projekt, dass ich 2017 nur mit einer Nullnummer begonnen habe, wieder aufzunehmen. Mache ich aber trotzdem. Voraussichtlich sehr unregelmäßig, aber ich hoffe, dass die nächsten Monate noch 1 oder 2 Folgen dazu kommen.

Auch will ich den Podcast über gängige Podcast-Plattformen (Apple, Google …) anbieten. Eine Voraussetzung dafür ist, ein Podcast-Logo zu haben. Wer eine gute Idee für ein Logo zu “Glaube mit Zweifeln” hat, pingt mich gerne an :)

Ansonsten gibt’s wohl erstmal ein vorläufiges Text-Logo.


Wie wird das neue Normal aussehen?

- in: politics ideas society

Klimawandel, Massenbrände (Amazonas, Russland, Australien), Dürren, Urwaldrodungen, Heuschreckenplagen. Wankende Weltmacht USA, weltweit erstarkende Demokratiefeinde, Internationale Organisationen sind schwach. (UNESCO und WHO bricht Finanzierung weg), EU praktisch unsichtbar.
FakeNews und Verschwörungstheorien überall, Social Bots und Klickarmeen in den sozialen Netzwerken, Journalismus ohne Geschäftsmodell.
Global agierende Weltkonzerne umgehen Steuern und scheffeln Milliarden.
Pandemie.

Notstandsgesetze, Versammlungsfreiheit ausgesetzt, Rausgehen nur mit triftigem Grund, Reisen aller Art bis auf weiteres Gestrichen. Sozialleben auf online begrenzt, aber Schulen, Arbeitsplätze und Shopping Malls sollen öffnen. Kassen mit Plexiglas abgetrennt, Bargeld verpönt, Prostitution und Obdachlosigkeit verboten.

Ausnahmezustand. Überall Ausnahmezustand. Dabei scheint die Sonne so schön. Wollen wir in den Park?

Der Ausnahmezustand wird bleiben. Es wird sich hier und da was ändern, angepasst, korrigiert, aber grundsätzlich wird der Ausnahmezustand bleiben. Er wird normal werden.
Wie wird es aussehen, die neue Normal?

Was wird “wie früher” und was nicht? Die Plexiglasscheiben vor den Kassen werden bleiben. Die Dürren auch. Werden wir unsere Versammlungsfreiheit wiederbekommen? Wenn ja, wann?
Einer Regierung Merkel traue ich es zu, dass wir die möglichst bald wieder bekommen … aber wann wird es wieder Festivals geben?
Geben die Deutsche ihre Zuneigung zu Bargeld auf? Wird Prostitution wieder erlaubt werden?

Welche Firmen wird es geben? Welche Fluggesellschaften? Wird es zukünftig Billigflieger geben? Bahnreisen?
Werden die Europäischen Grenzen wieder geöffnet? Oder wird es überall Pass- und Fieberkontrollen geben?
Was sind die Wirtschaftszweige der post-Corona-Zeit?
Wird es überhaupt eine post-Corona-Zeit geben oder wird Corona bleiben? Werden andere Pandemien kommen?
Welche Lebensmittel werden wir essen, wenn Dürren und Heuschrecken die Ernten vernichten?
Werden die Wetterkatastrophen noch schlimmer werden? Die Brände?

Welche Städte werden in den Fluten versinken? Welche werden mit massiven Dämmen geschützt?
Wie lange werden wir noch Öl verbrennen um uns fortzubewegen oder zu heizen?

Wann wird China die USA als größte Wirtschaftsmacht, wann als Weltpolizei abgelöst haben? Werden wir dann als zweite Sprache Mandarin statt Englisch lernen?

Welche Medien wird es geben? Auf welche wird sich wer verlassen? Fox News wird bleiben, aber wer auf der anderen Seite?
Wie werden Menschen wissen können, was von Fox News kommt und was mit Journalistischer Sorgfalt geprüft? Wie wird Journalismus finanziert werden? Wo wird die Grenze zwischen Journalismus und (politischer) Werbung liegen?

Ist das die Postmoderne? Alle Werte, alles bisherige hinfällig und alles wird Egoismus, Kapitalismus und postfaktisch?
Was für Fähigkeiten werden gebraucht werden in dieser Welt? Programmieren? BWL? Kartoffelanbau? Jagen und Sammeln? Selbstdarstellung und Schauspielerei? Rhetorik und Netzwerken? Sprachkenntnisse? Russisch, Mandarin, Spanisch?
Werden Dokumente mehr oder weniger wert sein? Wird der Reisepass oder das Social Media Profil wichtiger sein? Welche Abschlüsse werden wichtig sein? Philosophie oder Medizin? Oder der Jagd- oder Führerschein?
Wird es Ausweise geben für “Fox News Anhänger”? Oder Google Mitarbeiter*in?
Wo und wie lange wird der Rechtsstaat sich halten? Wer wird ihn garantieren?

Die Institutionen werden nicht verschwinden, aber werden sie noch entscheiden? Können? Wenn ja, was?

Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. Wie früher wird es nicht wieder werden. Aber wie wird das neue “Normal” aussehen?


Soziale Infrastruktur in Ostdeutschland

- in: politics society

Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg hat die AfD Rekordergebnisse erzielt. Warum aber werden die Nazis in den Ostdeutschen Bundesländern gewählt?

Da gibt es mehrere valide Erklärungsansätze, die allesamt nicht rechtfertigen, Nazis zu wählen. Aber ich glaube, es hilft, sich die Lage etwas detaillierter anzusehen.

Infrastruktur

Wer sich die Ergebnisse der Europawahl im Mai genau anschaut, sieht, dass die AfD nicht perse in Ostdeutschland stärker ist als in Westdeutschland (so hat sie mehr Prozente in Gelsenkirchen als in Potsdam, Jena, Leipzig oder Rostock bekommen).

Die AfD ist nicht perse in Ostdeutschland stärker als in Westdeutschland, sondern vor allem in strukturschwachen Regionen stark - und das sind vor allem die ländlichen Regionen in Ostdeutschland. Strukturschwach bedeutet aber auch nicht perse ländlich. Gelsenkirchen ist ja selbst eine Großstadt. Sie hat wie viele Städte im Ruhrgebiet mit hohen Arbeitslosenzahlen und dem Rückgang der Bergbau-Industrie zu kämpfen. Der “Zukunftsatlas” sieht Gelsenkirchen auf den Platz 371 von 401 Landkreisen in Deutschland. (Das ist der 3. schlechteste in Westdeutschland).

Westdeutschland ist im Schnitt stärker besiedelt als Ostdeutschland, was u.a. Infrastruktur leichter finanzierbar macht. (Je mehr Menschen mit einem Zug fahren, je einfacher sind die Betriebskosten gedeckt.) Und die ländlichen Räume in Westdeutschland sind stärker suburbanisiert als in Ostdeutschland. Daher ist der Mangel an Infrastruktur in Westdeutschland häufig weniger tragisch als in Ostdeutschland - die Menschen kommen einfacher in Gegenden mit besserer Infrastruktur.

Selbst Großstädte wie Chemnitz, Dresden oder Magdeburg, in denen die AfD starke Ergebnisse hat, sind beeindruckend abgeschnitten. Nach Chemnitz oder Magdeburg fährt kein ICE, nach Dresden nur einer. Auffallend dabei ist auch: die AfD hat im Umland dieser Städte durchweg noch mehr Stimmen bekommen, als in den Städten selbst.

Mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR sind weite Teile der Wirtschaft zum Erliegen gekommen. Millionen Menschen innerhalb kurzer Zeit in den Westen gezogen. Dort gab es Arbeit. Gut aufgearbeitet hat dieses Phänomen Zeit Online. Besonders tragisch: es sind vor allem die Jungen, gut Ausgebildeten, die wegziehen. Es bleiben vor allem Alte. Vor der Wende war der Altersdurchschnitt im Osten niedriger als im Westen. Heute ist es andersherum. Die “Trendwende”, dass inzwischen mehr Menschen aus Westdeutschland nach Ostdeutschland ziehen, beruht vor allem darauf, dass ein paar Großstädte im Osten (Leipzig, Rostock, Jena) und der Speckgürtel von Berlin wächst (Falkensee, Oranienburg Bernau).

Jugend

Mit den jungen Menschen gingen und gehen immer noch diejenigen, die primär das Sozialleben ausmachen. Diejenigen, die Feste organisieren und feiern, die Vereine aufbauen und sich darin engagieren. Diejenigen, die sich eher mit Kunst und Kultur beschäftigen. Vor allem diejenigen, die sich mit Neuem beschäftigen, mit Globalisierung, Digitalisierung und der Klimakrise. Diejenigen, die potentiell eher neue Unternehmen aufbauen. Diese Bevölkerungsschicht fehlt auf dem Land und “überlässt” damit gewissermaßen das Land den Gestrigen. Klassischer Braindrain.

Das gerade die jungen Menschen in Sachsen die AfD wählen, überrascht mich wenig.. Die meisten jungen Menschen gehen weg, sobald sie können. Die, die bleiben, tun es oft aus Überzeugung. Der Weggang der jungen Menschen liegt zum Teil an mangelnder Infrastruktur und fehlenden guten Arbeitsplätzen. Oft aber ist es inzwischen auch Flucht. Flucht vor den Nazis, vor Übergriffen, Mobbing und Hetzjagden. Flucht, weil die Breite der Gesellschaft LGBTIQ-Menschen, Menschen anderer Hautfarbe oder auch nur andersdenkender Menschen nicht vor Nazis schützt. Es sind nicht alle Menschen in Ostdeutschland Nazis, aber wenn es Nazi-Übergriffe gibt, wird sich oft weg geduckt und weg geguckt. Bloß nicht selbst ins Visier der Nazis gelangen. Vielleicht sogar besser noch mitmachen, dann ist man vor den Nazis sicher. “Was ist schon dabei ein Flüchtlingsheim anzugreifen? Die Polizei macht eh nichts, bei den Nazis bin ich sicher.” Möchtegern-Mitläufer, die sich in ihrer Radikalität gegenseitig überbieten und damit selbst zu Nazi-Anführern werden.

Gesellschaftsleben

In der DDR wurde die Kirche bekämpft. Ostdeutschland ist noch heute das atheistischste Gebiet Europas (sagt eine Studie der NORC Organisation der Uni Chicago. Religion ist für viele Menschen ein Anker. Eine Gebilde, die in grundlegenden Lebensfragen Antworten gibt. In der DDR wurde diese Aufgabe von Partei, FDJ und den Gewerkschaften übernommen. Seit dem Zusammenfall der DDR klafft hier eine große Lücke. Eine Lücke, die rechtsradikale gerne für sich nutzen. Mitte der 2000er gab es viel Aufregung um die Schulhof-CDs der NPD - und deren Jugendarbeit. Gruppierungen wie diese gehen gezielt in die Lücken und bieten ein Sozialleben, das junge Menschen in Ostdeutschland sonst nicht bekommen. Was in Westdeutschland die Pfadfinder sind, erfüllen in Ostdeutschland oft rechtsradikale Kameradschaften. Sie gehen gezielt in Sportvereine und indoktrinieren Kinder und Jugendliche:

Ich habe in meiner Jugend in Sachsen-Anhalt erlebt, wie Neonazis vor allem über Fußballvereine die Wähler schon im Kinderalter rekrutiert haben. Da kam der Coach vor den Kommunalwahlen in die Kabine und sagte „Jungs, am Sonntag bitte die NPD wählen“.

— Shahak Shapira (@ShahakShapira) May 27, 2019

Es gibt in Ostdeutschland keine Volksparteien. Die gab es seit der Wende auch nie. Die CDU hat in Sachsen-Anhalt etwa 6600 Mitglieder. Die SPD etwa 3600. Das sind nicht mal 2 Mitglieder auf 1000 Menschen. Selbst die Linkspartei hat nur marginal mehr Mitglieder als die SPD. Hingegen hat die AfD in ihrer erst kurzen Existenz schon über 1000 Mitglieder und wächst beeindruckend schnell (während die anderen Parteien eher stagnieren, wenn nicht sogar Mitglieder verlieren). Quelle Damit fehlt ein wichtiges, erklärendes und zuhörendes Bindeglied zwischen den Entscheidungsträger*innen und der Bevölkerung. Es gibt quasi keinerlei Ortsverbände der Parteien auf dem Land. Die Politik findet “da oben” statt.

Eliten

Die Eliten Deutschlands sind westdeutsch. Auch die Eliten Ostdeutschlands sind westdeutsch (und weiß, männlich, cis und heterosexuell).

Es gibt keine überregional bedeutenden Medien in Ostdeutschland - das führt zu einer distanzierten Berichterstattung über Ostdeutschland. Johannes Hilje hat gut beschrieben, wie dieses Problem der AfD hilft. Und selbst die regional bedeutendsten Zeitungen gehören in fast ganz Ostdeutschland alleine dem MADSACK Verlag.

Wenn der Spiegel eine Woche vor der Wahl mit maximaler Arroganz alle Ostdeutschen zu Pegida macht, hilft das auch nur dem “Lügenpresse”-Gerede der AfD.

Guten Abend! Der neue SPIEGEL ist da. Digital ab sofort hier, morgen überall am Kiosk: https://t.co/vWJ4tFD94F pic.twitter.com/gmj2xHdMXG

— DER SPIEGEL (@DerSPIEGEL) August 23, 2019

In Westdeutschland gibt es ein politisch-gesellschaftliches Zugehörigkeitsgefühl. Es gibt Verbindung zu politischen Parteien, zu Religionsgemeinschaften, zu Stiftungen und Vereinen, zu Unternehmen, bundesweit relevanten Medien und wichtigen Forschungseinrichtungen. Wer ein Anliegen hat, findet im erweiterten Bekanntenkreis irgendwen mit Einfluss - egal ob in Medien, Wirtschaft oder Politik.

In Ostdeutschalnd ist dieses Zugehörigkeitsgefühl deutlich schwächer ausgeprägt. Es gibt nicht nur weniger gesellschaftliche Institutionen in Ostdeutschland, sondern auch die Entscheidungen werden seltener von Menschen aus der Region getroffen. Es erzeugt ein Gefühl eher verwaltet zu werden, als selbst agieren zu können. Dazu hat auch die Treuhandanstalt entschieden beigetragen.

Michael Seemann (@mspro) hat vor 2,5 Jahren eine neue Elite - die “globalen Klasse” - beschrieben. Diese Elite, diese Informationsarbeiter*innen sind es, die in Ostdeutschland kaum vorkommen. Das Internet ist langsam, die Bahnen kommen selten, die letzte Kneipe im Ort hat zu gemacht. Die moderne Elite kann dort nicht arbeiten, nicht leben. Sie ist für die Menschen in Ostdeutschland nicht erreichbar - und andersherum. Diese Elite hat auch keinen Bezug zu Ostdeutschland. “Durchfahrland” - da, wo der ICE nicht hält.

Es geht nicht darum, dass die Menschen in Ostdeutschland perse kein Geld haben (auch wenn Westdeutsche im Schnitt deutlich reicher sind als Ostdeutsche), sondern darum, dass Ostdeutschland tatsächlich in Teilen vom öffentlichen Leben der liberalen, progressiven, pluralistischen Gesellschaft abgeschnitten ist.

Identität und Geschichte

Es gibt nicht die Ostdeutsche Identität. Die DDR existierte 39 Jahre, die gut bewachte Grenze (inklusive der Berliner Mauer) 28 Jahre. Diese Zeit hat Menschen in Ostdeutschland geprägt. Aber sie ist zu kurz, um eine umfassende spezifisch Ostdeutsche Identität zu prägen. Es gibt einige Dinge, die in Ostdeutschland anders laufen, als in Westdeutschland. Aber nicht alles, was heute als “Ostdeutsch” gilt, wurde in der DDR geschaffen.

In diesem NewStatesman Artikel wird beschrieben, dass Konrad Adenauer 1955 überlegte Westberlin gegen Thüringen zu tauschen, denn die NSDAP bekamen schon seiner Zeit mehr Zustimmung im Osten als im Westen.

Sachsen war ein Schlüsselgebiet der NSDAP. Hier gab es den ersten GAU außerhalb Bayerns und deutlich überdurchschnittlich viele NSDAP-Mitglieder, wie auch deutlich überdurchschnittlich viele Menschen in angeschlossenen nationalsozialistischen Verbände.1

Das widerum ist historisch auch nicht so verwunderlich. Der letzte König Sachsens - Friedrich August III - war außerordentlich beliebt. Als er 1918 auf seinen Thron verzichtete, sei die Mehrheit der Bevölkerung dagegen gewesen, schreibt der Chemnitzer Geschichtsprofessor Frank-Lothar Kroll.2 1932 kamen 500.000(!) Menschen zur Bestattungszeremonie des letzten sächsischen Königs nach Dresden. Das sind mehr, als seinerzeit in Dresden überhaupt gelebt haben.3

Frank Richter, langjähriger Chef des sächsischen Zentrums für politische Bildung, schreibt in seinem Buch, dass 1989 in Dresden nicht nur Deutschland, sondern auch weiß-grüne Sachsenflaggen geschwungen wurden, teils mit königlichem Wappen - obwohl das Land Sachsen in der 1952 in der DDR aufgelöst wurde.4

Sachsen wurde als Kurfürstentum und Königreich über Jahrhunderte durchgehend von Monarchen regiert. Es gab einen umfassenden Hofstaat und empfand Sachsen waren Stolz darauf, ein eigenes Königshaus zu haben.

Der Schritt von der Verehrung der Monarchie als bester Staatsform zum Nationalsozialismus mit starken Führern ist klein.

Die DDR hat über die Themen Rassismus, Antisemitismus und Neonazis ausgiebig geschwiegen, denn worüber offiziell nicht geredet wird, das existiert auch nicht. Harry Waible hat akkribisch herausgearbeitet, das es in der DDR durchaus Rassismus, Antisemitismus und viele Neonazis gab.

Wenn Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht angesprochen wird, können diese Probleme auch nicht bearbeitet werden. Das ist, warum Kurt Biedenkopfs “Ostdeutsche sind immun gegen Rechtsradikalismus” so verheerend ist. Natürlich sind nicht alle Ostdeutschen Nazis. Es wählen ja nicht alle die AfD - sondern nur 1/4 der Wählenden. Wenn die Nichtwähler*innen dazu genommen werden, sind es nur noch so 1/6. Und auch nicht alle AfD-Wähler*innen sind Nazis. Sehr wohl aber haben alle Menschen, die die AfD wählen, kein Problem mit Nazis. Und das widerum ist ein massives Problem. Es geht ja nicht nur darum, ob alles Nazis sind, sonder auch darum, wer die Nazis unterstützt. Und wenn ein 1/6 der gesamten Bevölkerung die Nazis der AfD in Parlamente wählt ist das eine Katastrophe. Die Nazis brauchen nicht die Unterstützung der gesamten Bevölkerung. (Einen Teil davon wollen sie ja eh auslöschen). Es reicht, wenn es niemanden mehr gibt, der sich traut den Nazis in den Weg zu stellen.

Ich kann Gedankengänge einiger AfD-Wählenden nachvollziehen, die argumentieren, dass sie selbst kein Problem mit der AfD haben. In Ostdeutschland leben prozentual weniger Menschen mit Migrationshintergrund. Es wird schnell ein “mir doch egal, ob die gegen Ausländer hetzen”, weil niemand selbst betroffen ist. Und auch viele nicht bewusst Menschen mit Migrationshintergrund kennen. Sie wiegen in Sicherheit vor den Nazis und wollen mit der Wahl der AfD “der Politik einen Denkzettel verpassen”. Diese - sehr egoistische, aber in sich schlüssige - Argumentation, ist eine politische Bankrotterklärung. Menschen, die derart egoistisch argumentieren, wollen keine Demokratie. Sie wollen keine plurale Gesellschaft, keine politischen Diskussionen. sie wollen das starke Führer für Ruhe sorgen. Sie wollen national befreite Zonen und Naziregierung.

Und jetzt?

“Wehret den Anfängen!” ist zu spät. Es hat schon längst begonnen. Wir können Demokratietheorie-Debatten führen und weiter analysieren, wie die wenige (soziale) Infrastruktur in Ostdeutschland oft von Nazis beherrscht oder zumindest die Nazis darin toleriert werden. Aber die Analysen alleine machen noch nichts. Die produzieren nur bedrucktes Papier. Wie es wenig pluralistische Öffentlichkeit in Ostdeutschland gibt, ist ja eigentlich auch allen klar. Und ohne Öffentlichkeit, entsteht keine Demokratie, das ist auch keine neue Erkenntnis. Öffentlichkeit lässt sich nicht von außen erzwingen. Es bringt nichts, wenn die FAZ oder der Spiegel mehr “über den Osten” berichten. Das können die Menschen in Ostdeutschland nur selbst. Demokratie muss aus sich selbst heraus wachsen. Die Initiativen, die es gibt, können aber sehr wohl unterstützt werden. Sowohl die demokratischen politischen Parteien, wie auch zivilgesellschaftliches Engagement.

Wir müssen aufhören, die AfD als “bürgerlich” oder “konservativ” zu bezeichnen und ihrer Nazi-Propaganda damit weiterer Nahrung geben. Stattdessen sollten wir über Naziterror reden - insbesondere in Ostdeutschland und Sachsen. Und Nazis bekämpfen mit allen Mitteln, die die Demokratie gerade noch erlaubt.

Wir brauchen massiv mehr soziale Infrastruktur mit klarer Kante gegen Nazis. Wir brauchen Zufluchtsorte, die vor Nazis sicher sind, in denen Demokratie sicher ist und wachsen kann.

Bücherquellen:

  1. Günther Heydemann, Jan Erik Schulte, Francesca Weil (Hg.): “Sachsen und der Nationalsizialismus”, Vadenhoeck & Ruprech, Göttingen 2014 S. 45 (Auswertung der Parteistatistiken der NSDAP von 1935) 

  2. Frank-Lothar Kroll: die Herrscher Sachsens, München: C. H. Beck 2004, S. 306ff. 

  3. Frank-Lothar Kroll: die Herrscher Sachsens, München: C. H. Beck 2004, S. 318 

  4. Frank Richter: Gehört Sachsen noch zu Deutschland?, Berlin: Ullstein 2019, S. 67 


No Chat No Pic

- in: ideas sex society

Als schwuler Mann habe ich früh angefangen das Internet als Datingplattform zu nutzen. Wie sonst komme ich auf dem Land mit anderen schwulen Männern in Kontakt?

Seiner Zeit habe ich viel gechattet in verschiedenen Chatforen, aber auch auf PlanetRomeo (damals noch GayRomeo) habe ich mit vielen Menschen beeindruckend lange und interessante Gespräche geführt.

Neulich habe ich schon über Probleme des schwulen Datens gebloggt und im Nachgang auch von vielen Heteros ähnliche Probleme geschildert bekommen. Es scheint ein grundsätzliches Problem zu sein, dass sich mit dem Internet zwar Menschen für den Austausch von Körperflüssigkeiten finden lassen, aber nicht für eine Beziehung.

Warum?

Ein zentrales Problem, dass ich dabei wahrnehme, ist die exponierte Stellung von Bildern auf Datingplattformen. “No pic no chat” - und geantwortet wird gemeinhin nur Profilen, die die eigenen Wunsch-Modellmaße zeigen.

Josefine Matthey (@josefine) hat auf der openmind Konferenz 2015 in den ersten 20 Minuten ihres Vortrages “On the Internet nobody knows, you’re a dog?” herausgearbeitet, wie sich das Internet von einem Textmedium zunehmend zu einem Bild-, Gif-, und Videomedium verändert hat:

Ich glaube, das hat auch Online-Dating massiv verändert. Egal, welche Dating-Plattform ich öffne, es geht vor allem um (sexy) Bilder. Selbst OKcupid nehme ich zunehmend als Sexy-Bilder-Plattform war. Die erste und oft einzige Hürde, sich kennenzulernen, sind Bilder. Für Menschen, die gerne unkompliziert Sex haben (und normschön sind), erfüllen sie genau diesen Zweck. Und ich finde das okay. Es ist allerdings schwer bis zu dem Punkt zu kommen, an dem es um tatsächliches Interesse aneinander geht.

Ich möchte spannende Menschen über das Internet kennenlernen. Spannende Gespräche führen und durch Profile gucken, um zu sehen, wer ähnliche Interessen und Hobbies hat, wie ich. Mit wem ich auf persönlicher Ebene matche - und dabei finde ich Six-Pack und Dick-Pics eher hinderlich. Wenn ich Penisse sehen will, gucke ich Pornos. Ich will Menschen kennenlernen, nicht deren Körperöffnungen.

Selbst soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook - funktionieren inzwischen vor allem über das Einbinden von Bildern. Viele einst sehr spannende Profile sind in der Bilderflut untergegangen oder nehmen an dem Wettbewerb um die meisten Likes (und die Algorithmen bevorzugen Posts mit Bildern gegenüber Posts ohne Bildern) nicht mehr teil. Und all die Bilder auf den Plattformen nehmen viel von der eigenen Fantasie, sich Dinge vorstellen zu können. “Pics or it didn’t happen” ist eine Form des kollektiven Misstrauens. Wer von mir verlangt, mit Bildern meine Geschichte zu “beweisen”, glaubt mir nicht. Wie soll eine Freundschaft funktionieren, wenn Menschen sich gegenseitig misstrauen?

Was ich sagen will: ich wünsche mir eine Plattform, die keine Bilder erlaubt. Bilder-basierte Plattformen gibt es inzwischen viele. Wer sich kennengelernt hat, und Bilder austauschen will, findet dafür Lösungen. Zum ernsthaften Kennenlernen von Menschen, scheinen Bilder aber eher teil des Problems als Teil der Lösung zu sein.

P.S. Das neu gestaltete Blog hat keine Kommentarfunktion mehr. Fundierte Kommentare nehme ich vie e-mail entgegen.


GmZ 000 - Nullnummer

- in: glaube ideas society

Ich frage mich seit längerem, was genau Glaube und Religion ist … und habe beschlossen, mir das von Leuten erklären zu lassen, die sich damit auskennen. Und weil ich glaube, dass nicht nur ich das interessant finde, lasse ich ein Mikrofon mitlaufen und mache einen Podcast draus. Anfangs will ich vor allem über die großen Religionen sprechen, aber ich finde auch kleine spirituelle Gemeinden sehr spannend. Wer mir ihre/seine Religion (vor einem Mikrofon) erklären mag oder einen guten Vorschlag hat, wen ich fragen könnte/sollte, möge sich bitte melden.

Worum es in der Podcast-Reihe genauer geht, habe ich in dieser Nullnummer mit Lara Bokor (@sofakante) und Gerhard Anger (@tollwutbezirk) besprochen.


Wie funktioniert gesellschaftlicher Wandel?

- in: society politics science

Ich denke sehr viel über diese Frage nach und mir dazu fundierte Theorie. Politik, Recht, Bildung und Medien haben da sicher alle irgendwas mit gesellschaftlichen Wandel zu tun, aber wie gut sind die Theorien, die es dazu gibt? Gibt es überhaupt fundierte Theorien, wie gesellschaftlicher Wandel funktioniert? (Mit so Phänomene wie dem Backlash oder dem Pyrrhussieg?)

Die Frage bewegt sich irgendwo zwischen Soziologie, Psychologie, Politik(wissenschaft), Geschichte, Jura und Kultur(wissenschaften). In den ersten fünf genannten Wissenschaften kenne ich mich kaum aus und überlege zu dieser Frage ein Barcamp (oder so) zu organisieren. Mir geht es dabei explizit um Theorien, wie gesellschaftlicher Wandel grundsätzlich funktioniert, unabhängig vom jeweils aktuellen Thema.

Bestände daran interesse und wenn ja, hätte wer Lust und Zeit, mir bei der Organisation zu helfen?


Antiaufklärung

- in: ideas politics society

Vor Monaten haben ich das Theaterstück “Fear” an der Berliner Schaubühne gesehen. Das war das Theaterstück, dass die AfD gerichtlich verbieten lassen wollte, damit aber gescheitert ist.

Es geht um lange überkommen geglaubten Probleme wie Rassismus und Homophobie, um wieder aufkommenden Nazirhetorik und über vereinsamte Menschen - vor allem in ländlichen Gegenden - die sich von der globalisierten Gesellschaft abgehängt fühlen. Es erzählt von Menschen, welche die alten Zeiten zurück wünschen.

Diese Menschen wurden tatsächlich von der beschleunigten, globalisierten Gesellschaft abgehangen. Und die globalisierte, durchaus auch neoliberale Gesellschaft, kümmert sich nicht um die zurückgebliebenen. Sie werden nicht beachtet und niemand möchte sie mit ihnen beschäftigen. Und diese Menschen merken das. Sie sind wütend, dass sie zurück gelassen werden und fangen an, gegen “die da oben” zu protestieren.

2013 gründete sich die AfD, 2014 wurden die Montagsdemos voller Verschwörungstheorien groß. Es folgen PeGiDa, Brexit, Trump. In Frankreich ist es die Front National, in Österreich die FPÖ. In allen gemein ist ein diffuses “Gegen die da Oben” - mit allerhand Verschwörungstheorien. Keine Argumentation, keinerlei Rationalität erreicht diese Menschen.

Michael Seemann (@mspro) hat noch vor dem Erfolg von Trump einen sehr erhellenden Text über die globale Klasse geschrieben. Er beschreibt, wie es eine Elite aus Medien und respektvollen Menschen gibt, die seit Jahren peu à peu die Gesellschaft verändert hat - und gegen diese Elite gibt es nun diesen massiven, rechten Protest.

Diese Menschen sind (häufig) der von der Globalisierung abgehängte Teil der Gesellschaft. Sie verstehen die Welt nicht mehr. Warum Rassismus ein Problem ist (früher war das auch immer so!) - und das mit dem Internet. Oder warum die abgebauten Fabriken nicht wieder aufgebaut werden. Sie verstehen die veränderte Welt nicht mehr, wählen den Rückschritt und verstricken sich in Verschwörungstheorien. Sie kommen mit dem neuen Wertekompass nicht klar und wollen ihren Alten zurück haben.

Es gibt mehrere Ebenen, die sich hier aufmachen: Die konkret politisch-gesetzgeberische, die gesellschaftliche Ebene (erstarken rassistischer Attacken nach dem Brexit in UK, erstarken der Neonazis nach Trumps Sieg) und die Antiaufklärerische. Alle drei Ebenen bereiten mir massiv Sorgen. Aber: Gesetze können zurück genommen werden, gegen einzelne Gruppen lässt sich vorgehen. Aber wie kann mit der Antiaufklärung umgegangen werden? Was ist die Strategie gegen Lügen und Verschwörungstheorien? Wie können Menschen überzeugt, die Argumente nicht gelten lassen?

Was ist mit der Aufklärung passiert? Eine Gesellschaft, die nicht auf Argumente hört, kann keine Demokratie sein.

Wie lassen sich Menschen aufklären, dass es eine Methodik braucht, um Wissen zu generieren? Wie kann erklärt werden, dass genau das der Knackpunkt der Verschwörungstheorien ist? Das genau das der Unterschied zwischen Wissen und Meinen ist? Wissenschaft braucht eine Methodik um einen Gegenstand zu untersuchen um unabhängiges Wissen schaffen zu können - und Verschwörungstheorien haben keine Methodik. Jedes Gegenargument wird Teil der Verschwörung. Verschwörungstheoretiker*innen lassen keine Methodik zu - sondern ihre Meinung ist wichtiger als die Methodik. Und genau das ist das fundamentale Problem.

Was aber lässt sich dagegen tun? Eine billige Forderung nach “mehr Bildung” klingt zwar super, löst das Problem aber nicht. Es ist ja nicht so, dass Rechtspopulismus nur von ungebildeten Menschen gewählt und gefördert wird.

Ich will verstehen, wie Menschen Verschwörungstheorien glauben, aber der wissenschaftliche Methodik nicht. Trump wurde im Wahlkampf so massiv durchleuchtet und kritisiert. In meinem Verständnis muss jeder*m klar sein, dass er kein geeigneter Präsident sein kann. Warum aber, wird er trotzdem gewählt?

Handeln diese Menschen in irgendeinem Sinne noch rational? Wenn ja, in welchem? Ich bin nicht schockiert über Trump, ich bin schockiert, dass er gewählt wird. Ich bin darüber schockiert, wie diese Bewegung der Antiaufklärung gegen alle rationalen Argumente immun zu sein scheint.

Wie soll eine Demokratie sich verteidigen, wenn die Argumentationen nicht mehr zählen? Samstag, 3.12.16 bin ich auf dem Save Democracy Camp im Betahaus Hamburg. Da möchte ich gerne über Antiaufklärung diskutieren und freue mich auch vorher schon über Anregungen, Kommentare, Argumente und (links zu) gute(n) Analysen.


Woran scheitert die offenen Gesellschaft?

- in: politics society

Seit Monaten stelle ich mir die Frage, was eigentlich falsch läuft, in der europäischen Gesellschaft. Ich habe wirklich keine Ahnung und bin gänzlich ratlos, was da passiert. Ich verstehe nicht, wie eine so offene und freie Gesellschaft so abdriften kann; wie das Vertrauen in jegliche Institutionen so massiv verschwinden kann.

Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Staat halte ich grundsätzlich für angebracht - immerhin hat der Staat das Gewaltmonopol und sollte immer kritisch betrachtet werden. Nun ist der gesamte Staatsapparat sehr differenziert.

Es gibt da den Föderalismus mit seinen vielen Regierungen und Parlamenten (und all seinen langwierigen Prozessen) um die Macht möglichst stark zu zertäuben. Es gibt die Europäische Union, quasi die Föderalismus auf europäischer Ebene - um die Freiheit und Offenheit europaweit zu garantieren. Es gibt die öffentlich-rechtlichen Medien, ein Konstrukt mit selbstständiger Finanzierung, um sicher zu stellen, dass keine Regierung ihre Agenda darüber verbreiten kann. Es gibt die Deutsche Welle, die tatsächlich ein Regierungssender ist, aber im Inland gar nicht aktiv gesendet wird. Es gibt private Medien, die so ziemlich alles berichten können, was sie wollen - solange sie sich an Gesetze halten. Es gibt ein gut funktionierendes Bildungssystem - und wird in Deutschland zum großen Teil vom Staat bezahlt, um die Einstiegshürden gering zu halten. Es gibt eine unabhängige Justiz vom Amtsgericht über Verfassungsgericht, dem Europäischen Gerichtshof bis hin zum internationalen Gerichtshof in Den Haag. Es gibt unzensiertes Internet und es ist ein leichtes Medien aus allen Ländern der Welt zu konsumieren (soweit die Sprachkenntnisse es erlauben). Es gibt einen beachtlichen Topf an Kulturförderung für (politische) Kunst, die einen enorm hohen Rechtsschutz bietet.

Mir fällt kein großes Freiheitsrecht ein, dass es in der europäischen Gesellschaft nicht gibt - und sobald etwas an einem Freiheitsrecht geändert werden sollen, kommen NGOs und schaffen eine große Debatte darüber.

Und TROTZDEM gibt es seit Jahren wachsende Verschwörungs-Montagsdemo-Pegida-Demos.

Ich kriege das nicht zusammen. Wie können Menschen in einer so krass offenen Gesellschaft auf derartig abstruse Gedanken hervorbringen? Ich verstehe nicht, was den Menschen fehlt. Ich. Verstehe. Es. Nicht.

Wie kann ein Mensch behaupten, dass *alle* Instanzen der offenen Gesellschaft gegen ihn agieren? Wie kann ein Mensch ernsthaft behaupten, Angela Merkel und die “Lügenpresse” arbeiten zusammen? Alle die Landesregierungen, Gerichte, Schulen und Hochschulen? All die Künstlerinnen und Künstler in Theatern, Ausstellungen? Museen? NGOs? (Wo immer ich mir die offene Gesellschaft betrachte, sehe ich Debatten und Streit. Wie kann behauptet werden, dass die alle zusammenarbeiten?)

Wie kann sich ein Mensch gleichzeitig gegen alle Institutionen der offenen Gesellschaft richten? Ich. Verstehe. Es. Nicht.

Dabei sei völlig unbenommen, dass es politische Differenzen gibt. Es gibt vieles an den einzelnen Institutionen zu kritisieren und zu verbessern. Es geht aber nicht um Politik. Wenn hunderte Gebäude in einem Jahr “politisch motiviert” angezündet werden, ist das keine Politik, sondern Terror. Wenn Büros aller politischen Parteien angegriffen werden, ist es kein Angriff auf eine Gruppe innerhalb der offenen Gesellschaft, sondern ein Frontalangriff auf die offene Gesellschaft als solches.

Warum haben diese Gruppen Zulauf? Woran scheitert die offene Gesellschaft?


Internetdepression

- in: personal society

Es gibt seit einiger Zeit immer wieder Texte, die nahelegen, dass das Internet bzw. Social Media für Depressionen verantwortlich ist, bzw. diese befördert.

In der Generalität ist die Aussage falsch. Ich bin depressiv und mir hilft “das Internet” in depressiven Phasen oft.

Immer wieder habe ich Phasen, in denen ich keine Gefühle habe. Ich kann den Wind spüren oder Menschen weinen oder lachen sehen, aber irgendwie fehlt die Verbindung zwischen der Außenwelt und mir. Mein Arzt hat mir deshalb die Diagnose “Depression” gegeben. Die Krankenkasse zahlt meine Psychotherapie und mein Antidepressivum - ein Medikament, dass dafür sorgt, dass es mehr Botenstoffe in meiner Hirnflüssigkeit gibt. Es gibt die Theorie, dass ein Mangel an Botenstoffen die Depression ist. Seit ich das Antidepressivum nehme, geht es mir besser - aber dennoch habe ich immer wieder diese gefühllosen Phasen.

Ich erkenne ein Muster, nach dem bei mir diese Phasen häufiger auftreten - damit kann ich sie ein bisschen vorhersagen und gewissermaßen einplanen. Die Phasen treten bei mir häufig nach stressigen Phasen auf, oder wenn ich besonders gut und stark sein will oder muss. Es ist ein bisschen, wie die allgemeine Erkältung, die häufiger auftritt nach besonders stressigen Phasen. Bei mir ist es seltener die Erkältung und häufiger die depressive Phase.

Kati Krause schreibt, dass Social Media Gift für Depressive ist. Ich kann die Argumentation nachvollziehen. Wenn Social Media in Stress ausartet, wenn ich mich immer besonders gut darstelle, immer besser sein will, verursacht das auch bei mir depressive Phasen. Ich habe Social Media nie beruflich genutzt. Eine Zeit lang sehr politisch, aber schon sehr lange nutze ich die verschiedenen Kanäle auch um mit guten Freunden zu kommunizieren und sehr ehrlich zu berichten, wie es mir so geht. Das ehrliche Kommunizieren hat bei mir noch nie Stress ausgelöst, sondern eher Wohlbefinden durch positive Rückmeldungen. Ich habe allerdings bisher auch das Glück quasi keinerlei Hatespeech ertragen zu müssen.

Manchmal hilft es mir auch zu sehen, was meine Freunde so tolles machen oder welche Hundebabies sie teilen. Manchmal hilft mir auch ein langer Spaziergang oder eine Avocado. Ich habe angefangen zu lernen, wie ich mit der Depression umgehe.

Irgendwann fing ich an, die Depression als Krankheit zu bezeichnen und mich vor mir selbst zu rechtfertigen, gerade etwas nicht zu können, weil ich halt krank bin. Jemanden mit gebrochenem Bein erlaubt die Gesellschaft auch einen Tag im Bett zu verbringen, also möge sie dies auch mit depressiven Menschen tun. (Wobei sich nicht alle depressiven Menschen ins Bett zurückziehen in ihren depressiven Phasen.) Die Krankenmetapher habe ich allerdings wieder abgelegt. Ich habe gemerkt, dass es mir nicht gut tut, mir selbst zu sagen, dass ich “krank” bin - und damit anders bin als “gesunde” Menschen. Die Depression ist kein Mangel an mir, sie ist ein Teil von mir. So, wie meine Beine ein Teil von mir sind, oder der Fakt, dass ich schwul bin. Das bin ich und daran ist nichts falsch oder “krank”. Ich habe einen Umgang mit meiner großen Körpergröße gefunden und auch mit meiner Kurzsichtigkeit. Ich bin dabei einen Umgang mit meinen depressiven Phasen zu finden. Menschen sind unterschiedlich. Manche sind groß, manche sind klein, manche haben rote Haare und manche haben gar keine. Manche spielen gerne Volleyball und andere haben Katzen. Manche haben depressive Phasen und müssen auf sich aufpassen, dass es ihnen gut geht. So wie Volleyball spielende Meschen auf ihre Handgelenke aufpassen. Wenn die kaputt sind, können sie kein Volleyball mehr spielen.

Menschen sind nicht nur unterschiedlich, sondern sie verändern sich auch. Mal wollen sie lieber Brötchen zum Frühstück und mal lieber Müsli. Manche Menschen wollen ihr ganzes Leben lang Äpfel essen, andere wechseln irgendwann zu Bananen. Vielleicht verändere ich mich irgendwann und ich habe keine depressiven Phasen mehr. Vielleicht bleiben sie.

Findet heraus, was euch gut tut. Findet heraus, wer ihr sein wollt und akzeptiert, wer ihr seid. Probiert euch aus (im Rahmen eurer Möglichkeiten). Wenn euch das Internet schlecht tut, nutzt es weniger. Wenn euch Hundebabies glücklich machen, folgt allen Hundebaby-Tumblers. Oder habt selbst einen Hund. Wenn ihr alleine schlecht weiter kommt, sucht euch eine Psychotherapie oder geht zu eurem Arzt. Wenn das zu anstrengend ist, fragt Freunde, ob sie mit euch zum Arzt gehen und euch unterstützen. Wenn ihr telefonieren könnt, ruft die Nothilfe an. Es gibt Hilfe. Gebt euch nicht auf und verteufelt die Welt nicht. Verzweifelt nicht. Es wird besser werden. Der Glaube daran hilft. Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.


Was bedeutet es noch einem Menschen zum Geburtstag zu gratulieren?

- in: ideas society

Immer wieder sehe ich Geburtstagsgrüße in meiner Timeline.

Schnell schließen sich an die Geburtstagsgrüße weitere Geburtstagsgrüße an. Aber was bedeutet ein “happy birthday” oder “alles Gute” noch? Eigentlich ließen sich diese kurzen Gratulationen doch auch völlig automatisieren. Es ist ja nett, dass ein Kalender, Facebook oder eine vorangegangene “Alles Gute!”-Nachricht dazu animiert 3 Sekunden für eine neue Nachricht zu investieren. Aber was sagt das noch aus? Wer freut sich wirklich über diese kurzen, quasi-automatischen Nachrichten? Gratuliert ihr auch so zum Geburtstag? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

Kommentare

von: sebalis

Übrigens, wann ist eigentlich dein Geburtstag? ;-)

von: sebalis

Meine Standard-Reaktion ist Nicht-Gratulieren. Aber es gibt Ausnahmen, denn wenn ich im Laufe der Monate öfters Nachrichten schicke, in denen so etwas steht wie „Hey, in deiner Überschrift ‚Was bedeutet es noch einem Menschen zum Geburtstag zu gratulieren?‘ fehlt ein Komma nach ‚noch‘ …“, dann sollte ich doch manchmal auch etwas Nettes schreiben. :-) Das suche ich mir dann aber von Fall zu Fall aus und schreibe es meistens nicht-öffentlich. Außer wenn das Medium einen nicht-öffentlichen Weg nicht so leicht zulässt oder dieser auf diesem Medium so „intim“ konnotiert ist, dass es nicht zu der Beziehung mit der Person passt.

von: tante

Ich gratuliere nicht mehr auf Facebook etc. weil ich den Eindruck habe, damit nur die Notifications Einzelner vollzuspamen.

Es ist ja irgendwie nett gemeint, aber macht dann doch eigentlich nur Arbeit (da auf FB zu mindest das soziale Protokoll sagt, man solle sowas zu mindest Liken).

Ich bin aber auch kein gutes Beispiel, da ich meine Geburtstage nicht feiere oder ihnen Bedeutung beimesse.


Depression - #NotJustSad

- in: personal society

[Triggerwarnung: Depression und Suizid] [Disclaimer: Ich bin kein Psychologe, sondern betroffen.]

Mir war bis zum Hashtag #NotJustSad nicht klar, wie systematisch die Depression ist. Bisher hielt ich Depression für ein sehr persönliches Problem, aber das ist es nicht. Es hilft, sich nicht nur sagen lassen, nicht alleine zu sein, sondern zu sehen, wie andere Menschen exakt die gleichen Muster ausformulieren und ich mich darin wieder finde. Danke.

Vor Einsamkeit ersticken aber keine Menschen ertragen. #NotJustSad — Rapunzel. (@meerisch) November 10, 2014

Es gibt verschiedene Wege mit einer Depression umzugehen.
Eine sehr tragische ist der Suizid - der “schnelle” Exit aus der Depression.
Ein anderer ist die Psychotherapie, die deutlich länger dauert und zumindest bei mir immer wieder große Schmerzen verursacht, aber Schmerzen sind gut, denn es ist immerhin überhaupt ein Gefühl.

I rarely feel sad. I often feel empty. #NotJustSad — Gero Nagel (@zweifeln) November 11, 2014

Depression ist die Abwesenheit von Gefühl. Für mich ist sie stumpfe, graue Leere. Mit Schmerz lässt sich umgehen, mit Leere nicht. Das ist, was die Depression so schwer macht.

Es gibt wenige Dinge, die in einer akuten Depression wirklich helfen. Versuche mich aufzumuntern oder mich irgendwo hinzunehmen waren fast immer kontraproduktiv. Was mir hilft, ist nicht allein zu sein. Wissen, dass irgendwer da ist, ohne auch nur irgendwas zu tun. Und wenn es mein Mitbewohner ist, der ab und zu anklopft und fragt, ob er was tun kann. Das beste, was er tun kann, ist nachfragen und mir verdeutlichen, dass er für mich da sein will, auch wenn ich ihn gerade ablehne. Drängt eine depressive Person zu nichts, aber seid anwesend, so lange sie euch nicht explizit wegschickt.

Gut visualisiert sind Depressionen auf Hyperbole and a Half. Außerdem ist “Loving Someone with Depression” ein sehr guter Artikel zum Umgang mit depressiven Menschen.

Auf dem Barcamp des Scheiterns wurde mir deutlich, wie wichtig es ist, richtig zu scheitern. Es ist okay, wenn das Bett mehrere Tage nicht verlassen werden kann. Strenge und Druck machen die Depression nur schlimmer. Seid nachsichtig mit euch selbst und lasst das Scheitern und den Schmerz zu. Ich glaube, das hilft akute Depressionen zu vermeiden.

Bild: CC-BY-NC-ND 4.0 robot-hugs.com


Der Tag wird kommen.

- in: personal sex society

“Du weiß nicht, wie das ist, wenn man immer eine Maske trägt.”

Ich bin schwul und es sollte keiner Rolle spielen. Inzwischen lebe ich in Berlin und es spielt fast keine Rolle mehr. Aber ich bin auf dem Land aufgewachsen, da wo es doch eine Rolle spielt. Da, wo du für deine Sexualität manchmal eben gehasst, gemobbt, geschlagen, getreten, erniedrigt und bedroht wirst. Da wo es vorkommt, dass Kindheitsfreunde sich von dir abwenden, weil sie von deiner Sexualität erfahren. Da, wo du niemanden erzählen kannst, dass du am Versuch gescheitert bist, dir das Leben zu nehmen, weil auch das nur weiteren Hass herbeiführen würde.

In dieser Welt versuchte ich lange unentdeckt und möglichst “hetero” zu bleiben. Es ist das Leben, in dem ich mich vor mir selbst ekelte, weil ich nicht mal zu mir selbst ehrlich sein konnte. Es ist das Leben, in dem du dir einredest, es wäre nur eine “Phase” und würde vorbei gehen. Es ist das Leben, in dem du dich versteckst und verkriechst und dich allein bei dem Gedanken an deine Sexualität schlecht fühlst. Es ist ein Leben in versuchter Anonymität.

Immer wieder dient dieses Leben als Beispiel, warum Anonymität so wichtig ist. Und doch ist es falsch. Es gibt viele gute Gründe für die Anonymität. Dass sich Menschen vor sich selbst ekeln, weil sie nicht sein können, wer sie doch sind, ist es nicht. Erklärt Homosexuellen nicht, dass sie sich verstecken sollen. Erklärt ihnen, dass sie stolz sein sollen, weil sie überlebt haben. Erklärt ihnen, dass sie Vorbilder sind und manchmal auch als Helden angesehen werden, weil sie es geschafft haben eine Welt zu erschaffen, in der sie offen leben können.

Viele trauen sich nicht sich zu outen und es ist wichtig sie nicht zu zwingen. Aber damit Homosexualität normal wird, darf die Gesellschaft die Homosexualität nicht verstecken. Die eigene Sexualität ist nichts, was versteckt gehört. Sie ist ein Teil von euch, versteckt euch nicht dafür.

Pro Homo.


Digitales Vergessen

- in: society

Ich finde Vergessen doof. Dauernd vergesse ich irgendwas. Ganz besonders häufig vergesse ich Namen. Was bin ich glücklich, wenn ich auf meinem Telefon nachgucken kann, wie die Person denn heißt, wenn ich sie schon das fünfte mal treffe. Erinnern bereichert mein Leben. Und weil mein Gedächtnis immer wieder Dinge vergisst, bin ich glücklich, dass es Technologien gibt, die mir beim Erinnern helfen. Fotos z.B. Oder eben Suchmaschinen.

Und schon heute nervt es mich, wenn ich alte Blogposts lese und die Links darin nicht mehr funktionieren. Teils weil CMS’ umgebaut wurden, teils weil Internetseiten doch immer wieder vom Netz genommen werden. Ganze Social Networks sind im Nirvana verschwunden. Das Internet vergisst eben doch.

Es gibt also durchaus ein “vergessen werden” im Internet. Fraglich bleibt, ob es noch ein Recht auf Vergessenwerden braucht. Ich glaube diese Regelung ist zu viel vergessen, denn vergessen hilft der Menschheit nicht. Ich will, dass wir uns möglichst gut erinnern können, denn ich bin überzeugt davon, dass mehr Wissen die Menschheit weiter bringt.

Das Recht auf Vergessenwerden halte ich für kontraproduktiv.


Wandel

- in: ideas politics society

“Change!” - Obamas Wahlkampfmotto hat sich weit verbreitet. Überall fordern Menschen Wandel, dabei ist die Forderung nach “Wandel” falsch. Wandel alleine sagt nichts aus. Wandel lässt sich nur für konkrete Vorhaben fordern. Ein Wandel in der Asyl- oder Wirtschaftspolitik ergibt Sinn. Wandel alleine ist unvollständig. Wandel im ganz Großen gibt es nicht einzeln. Wandel ist immer, denn irgendwas verändert sich immer. Diesen Wandel zu fordern ergibt keinen Sinn. Politik muss nicht vorgeben, wie sich die Welt zu verändern hat, sondern muss den Rahmen schaffen, wohin sich die Welt verändern kann. Politik kann nicht auf jede einzelne Entscheidung eingehen, sondern muss immer die großen Gesellschaftsänderungen beobachten und darauf reagieren. Den Wandel fordert, wer selbst agieren will und das große System verändern will, denn alles andere passiert aus der Eigendynamik der Gesellschaft her und braucht keine grundlegend neue Politik. Dann muss Wandel aber wirklich konkret werden. Was genau soll sich verändern? Es ist eine leere Phrase nur den “Wandel” zu fordern, ohne zu sagen, welchen. Wir, die Piratenpartei, fordern immer wieder den “Wandel”, aber niemand weiß, was genau damit gemeint ist. Wir werden selten konkret oder verbleiben nur in der Reaktion und fordern eine Anpassung vorhandener Gesetze. Wir fordern oft, dass sich Gesetze wieder auf die Grundrechte im Grundgesetz rückbesinnen sollen. Diese Forderung kann kein Wandel sein. Es ist eine Reaktion auf eine veränderte Welt, aber kein Wandel, der grundlegend die Politik verändert.

Der “digitale Wandel” ist kein Wandel. Es gibt einen technologischen Fortschritt, der auf die Gesellschaft Auswirkungen hat. Der technologische Fortschritt hat kein Anfang und kein Ende - beides ist notwendig für den Wandel. Erst wenn anhand dieses Fortschrittes ein neues Gesellschaftskonzept entwickelt wird, ist es ein konkreter und umsetzbarer Wandel. Wenn wir (Piraten) einen Wandel fordern, beziehen wir diesen im Allgemeinen auf den technologischen Fortschritt. Der Wandel muss also ein konkretes Gesellschaftskonzept beinhalten. Dieses Konzept spiegelt sich in vielen unserer Anträge wieder, aber wurde nie ausformuliert. Der Wandel, den wir fordern muss auch Phänomene wie Peak Labour beinhalten. Alles, was aus dem technologischen Fortschritt absehbar ist.

Ich denke darüber nach dieses Gesellschaftskonzept mal auszuformulieren und in ein Buch zu schreiben. Was haltet ihr davon? (Vielleicht schreibt ja @mspro gerade dieses Gesellschaftskonzept in “Das Neue Spiel”, aber gefühlt ist seine Konzeption doch eine andere.)


Peak Labour

- in: ideas politics society

Die SPD will also Netzpartei werden. Nun ja, nur zu, denn Netzpolitik wird als solche verschwinden. Wir (die bisherigen Netzpolitiker) haben mit “Netzpolitik” einen deutlich zu kleinen politischen Bereich bearbeitet. Wir haben den digitalen Wandel unterschätzt. Wir müssen nochmal von Vorne anfangen und die Skala vergrößern.

Der digitale Wandel wird alles verändern.

Unsere anfängliche Idee, uns um das Internet kümmern zu wollen und um die Probleme, die direkt mit der Nutzung des Internets zusammenhängen, ist zu klein. Wir müssen auch alle Veränderungen mitdenken, die mittelbar durch das Internet entstehen. Wir können uns nicht auf Netzneutralität, Datenschutz und Urheberrecht begrenzen. Wir müssen auch Wirtschafts- und Arbeitspolitik mitdenken. Wir müssen auch Verkehrspolitik und Gesundheitspolitik bedenken. Und das größte Problem, dass der digitale Wandel mitbringt ist nicht der Wandeln von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft, sondern das größte Problem ist, dass wir der digitale Wandel die Industriegesellschaft abschaffen wird, ohne neue Gesellschaftsformen zu bilden, die den vielen Menschen Arbeit gibt. Das größte Problem ist, dass sich die Gesellschaft so nachhaltig verändern wird, dass es für viele Menschen keine Arbeit mehr geben wird. Es ist nett, dass die SPD jetzt anfangen will, sich auch um das Internet zu kümmern, aber die SPD ist leider zu spät. Die Lösungen für das Internet haben wir schon seit 5 Jahren. Wir brauchen jetzt eine Politik, die sich mit dem Peak Labour beschäftigt. Wir brauchen jetzt Lösungen, wie wir mit der gewaltigen Massenarbeitslosigkeit umgehen werden, die uns in der Zukunft bevorsteht. Die Politik muss jetzt die Lösungen finden, wie Gesellschaft ohne Arbeit aussehen soll. Der bisherige Gesellschaftsvertrag hat ausgedient. Und das nicht nur, weil die Bevölkerung immer älter wird, sondern auch, weil immer weniger Menschen in der Bevölkerung von ihrer Arbeit leben können. Mindestlohn ist eine gute Idee, aber auch die funktioniert nur so lange, es überhaupt Arbeitsplätze gibt. Unsere Arbeit wird aber zunehmend mehr von Maschinen übernommen. Es ist eine Frage, wie wir mit diesem Fakt umgehen, nicht, wie dieser Fakt genau aussehen wird. Es ist eine Frage, ob wir die Bevölkerung in überholte Gesellschaftsverträge pressen wollen, oder ob wir es uns wagen neue Gesellschaftsverträge anzugehen. Wenn die SPD jetzt Netzpolitik gestalten möchte, kommt sie 5 Jahre zu spät. Wir können nicht mehr alleine über Netzpolitik reden, wir müssen neue Gesellschaftsideen diskutieren, die den digitalen Wandel umfassend mitdenkt. Und es gibt da ja durchaus Ideen, wie das bedingungslose Grundeinkommen, das lange noch nicht ausdiskutiert ist, aber immerhin eine Idee ist, die vielleicht funktionieren könnte. Wenn die SPD sich nun also endlich mit dem digitalen Wandel beschäftigen möchte, muss sie das auf einer größeren Skala machen und sich selbst und ihre Grundwerte grundsätzlich hinterfragen. Die Labour-Bewegung neigt sich zum Ende. Die Sozialdemokratie als Arbeiterbewegung hat ausgedient. Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, keine neue Netzpolitik. Die haben wir schon.

Kommentare

von: Philip

Sehr guter Gedanke, den digitalen Wandel einmal nicht aus dem Blinkwinkel eines Netzwerk-Administrators zu betrachten. Ich denke, dass die digitale Welt durchaus eine neue Art von prekärer Arbeit schafft, das nennt man dann Crowdfunding oder Human Intelligence Tasks. Amazon lässt grüßen: www.mturk.com. Das Problem: bei der “selbstständigen” Heimarbeit am Computer gibt es keine Gewerkschaften und keinen Mindestlohn und schon gar keine internationalen Regeln. Die Konzerne schaffen – wie üblich – schneller Tatsachen, als die Politik da geistig mitkommt. Die Welt wird sich rasant verändern, da gebe ich Dir recht. Aber die Menschen werden nicht auf der Straße sitzen und jammern, sondern sie werden sich Ihren Hungerlohn im Internet zusammendaddeln. Das Problem wird nie mehr die Arbeitslosigkeit sein, sondern die Ausbeutung von Billiglöhnern und die Aushöhlung der sozialen Netze.


These: Staaten werden durch Plattformen abgelöst

- in: ideas science society

Ich denke immer mal wieder über die Plattformneutralität, wie von mspro beschrieben, nach. Ich bin mir sehr unschlüssig, ob tatsächliche Neutralität der Plattform überhaupt möglich ist, aber zumindest das Konzept “Plattform” erscheint mir sehr schlüssig. Wir alle bewegen uns auf Plattformen. Server-Infrastruktur, die in den meisten fällen doch irgendwo gemietet ist (in meinem Fall bei den großartigen Ubernauten), Betriebssysteme, soziale Netzwerke (Twitter, Facebook, G+, tumblr oder soup.io?) - aber auch im RL gibt es überall Plattformen. Wer ein neues Regal braucht, baut das nur sehr selten selbst zusammen, sondern schnell führt der Weg zu IKEA. Wir haben zunehmend weniger eigenen Autos, sondern sind Kunden einer Mietwagenfirma. Und wenn wir erst Kunde sind, wechseln wir nur noch sehr selten. Nicht zu vergessen die Bahn oder die verschiedenen Fluglinien (die sich ja selbst auch schon Allianzen geschmiedet haben), die es gibt.

Das alles sind Plattformen für einen Dienst. Meine These ist, dass diese Dienste immer weiter miteinander interagieren und damit größere Plattformen bilden. Google übernahm erst die Suchmaschine, dann das Smartphone. Mit der Übernahme von YouTube, Nest oder Dynamics Boston zeigt sich, wie sehr die Plattform Google gerade wächst. Samsung ist eine andere Plattform, die einen Haushalt gut von Smartphone über den Kühlschrank bis zum Auto abdeckt.

Wenn Google nun mit der Bahn und Samsung mit Lufthansa Verträge schließt, wird es darauf hinaus laufen, dass Bahntickets an Google-Kunden günstiger verkauft werden und Samsung-Kunden in der Lufthansa billiger fliegen. Betriebseigene Kindergärten gibt es in großen Konzernen schon lange. Die Frage ist, wann diese Kindergärten auch auf Poweruser ausgeweitet werden. Wenn diese Entwicklung noch Krankenhäuser und Schulen erfasst, stellt sich die Frage, wofür Staaten eigentlich noch da sind. Löst der Kapitalismus damit den Nationalstaat ab? Werden wir statt eines Reisepasses in Zukunft mit Samsung- oder IKEA-ID durch die Welt reisen?

Kommentare

von: Philip

Einerseits: ja, ja, ja. Dadurch, dass Wirtschaftsunternehmen inzwischen erfolgreicher sind alsS taaten, wenn es darum geht, den Bürgern Geld aus der Tasche zu ziehen, werden diese internationalen “Plattformen” immer mehr Einfluss auf das Leben nehmen. Mehr, als das ein demokratischer Staat je getan hat. Man geht öfter zur IKEA als ins Wahllokal. Viele geben mehr für Unterhaltungsmedien aus als für Steuern (ok, das ist eine gewagte Theorie). Aber es gibt nicht nur demokratische Staaten, und die Marginalität von “Staatsgewalt” im heutigen Deutschland ist - geschichtlich gesehen - ein irrer Luxus. Hoffen wir dass sich der Staat nicht mit Gewalt zurückmeldet, weil dem Wahlvolk plötzlich Sicherheit vor Freiheit geht.

von: http://canada-goose-i-norge.pordy.net/

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von: Gero

Hey du! Sry, dass ich erst jetzt antworte. Mein Leben funktioniert gerade nicht, wie ich es will und dann lasse ich viele Dinge (vorübergehend) unbeantwortet - siehe folgender Blogpost.

Aber zur Plattform-These:

Ich glaube nicht, dass der (National)Staat einfach verschwindet, sondern betrachte ihn eher auch als “einfache” Plattform. Ob ich einen deutschen, japanischen oder indischen Pass habe als Äquivalent zum Google-, Apple- oder Hotmailaccount.

Vielleicht bin ich etwas kulturwissenschaftsgeschädigt, aber ich glaube nicht, dass der Kapitalismus, sich aus Gesetzen ableitet, die in Staaten gemacht werden. Kapitalismus ist gänzlich andere Kategorie, die in völlig verschiedenen Staatsformen funktioniert (auch in wenig demokratischen Staaten, siehe China). Und Inkassounternehmen werden auch funktionieren, wenn es keinen Staat mehr gibt. Spätestens, wenn der Mailaccount gesperrt wird, weil die Rechnung nicht bezahlt ist, wird klar, dass das Einschreiten eines Staates eher die formale Herangehensweise ist.

Insbesondere supranationale Konstrukte, wie die EU oder auch der Commonwealth fassen die These der Plattform deutlich besser, als des Staates. Hier sind die Staaten nämlich selbst in einer Art “Überstaat”, die untereinander durch Verträgen handeln. Der Staat, wie es ihn heute gibt, leitet sich ja vor allem aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Nation, beginnend im 19. Jh. her. Und genau dieses Zusammengehörigkeitsgefühl verliert sich zunehmend und wird durch andere Zusammengehörigkeiten (wir sind auf Twitter, die da sind auf Facebook!) abgelöst. Formal werden Staaten natürlich weiter bestehen, aber die Form ändert sich stark von der Nation zur Plattform.

(Und im 19. Jh. war das Konzept Nation auch sehr fortschrittlich, vorher wurde die Welt ja im Wesentlichen von Monarchien regiert. Und erst mit der Geburt der Nation wurde der Staat, was er heute (noch) ist: eine Zusammenfassung von gleichwertigen Menschen auf einem bestimmten Gebiet.)

von: Maureen

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von: mark793

Wer nichts hat als einen Sprung in der Platte, dem erscheint die ganze Welt als Plattform. ;-)

Richtig ist, dass sich der Staat aus der sogenannten Daseinsvorsorge schon sehr weit zurückgezogen hat, und die Annahme, dass dieser Prozess noch nicht seinem Endpunkt erreicht hat, scheint mir auch nicht weit hergeholt. Aber daraus ein Verschwinden des (National-)Staates insgesamt abzuleiten, scheint mir sehr gewagt. Das riecht nach dem typischen Netz-Zentrismus, in den auch Michael Seemann gerne verfällt. Beim Verwalten, Gesetze machen und durchsetzen seiner Regelungen kann ich beim besten Willen keinen nachlassenden Eifer des Staates erkennen, im Gegenteil.

Dass einzelne administrative Teilbereiche an private Dienstleister outgesourct werden oder ein immer größerer Teil der Rechtssetzung auf europäischer Ebene stattfindet, setzt trotzdem weiterhin einen Staat voraus. Der wird bestimmt nicht von selbst verschwinden, nur weil wir Bürger vielleicht nicht mehr ganz so viel mit ihm zu tun haben wie in der Vergangenheit. Der Kapitalismus bedarf des Staates weiterhin zur Gewährleistung der optimalen Bedingungen seines Weiterfunktionierens, schon Marx hat das Stichwort vom Staat als dem “Exekutivkommitee des Kapitals” geprägt. Dass das das Kapital (oder weniger ideologisch ausgedrückt: der privatwirtschaftliche Sektor) zunehmend staatliche/hoheitliche Aufgabenbereiche übernimmt, steht dazu nicht grundsätzlich im Widerspruch.

Kurz gesagt, wenn Sie mehr nicht mehr (und bessere) Indizien als die Existenz von privaten Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern für ein Verschwinden des Staates anführen können, würde ich sagen, Ihre These schwebt ziemlich im luftleeren Raum.


Der Kartoffelkreislauf auf dem Ponyhof

- in: art society

Ein Ponyhof macht viel Arbeit. Ponies wollen ihren Freilauf, also bringt man sie auf die Weide. Auf der Weide fressen die Ponies viel Gras. Aber weil Ponies nie genug haben können, wollen sie immer auf eine andere Weide. Dann muss man sie auf eine andere Weide bringen. Manchmal machen sie sich auch alleine auf den Weg und landen plötzlich im Kartoffelfeld. Dann muss man sie schnell wieder einfangen, denn Kartoffeln sind sehr giftig für Ponies.

Wenn die Ponies wieder eingefangen sind, müssen die kaputt gemachten Zäune repariert werden. Außerdem muss man Ponies regelmäßig misten. Den Mist bekommen dann die Kartoffeln, damit sie viele Nährstoffe daraus aufnehmen können. Kartoffeln sind wichtig. Man muss auf die Kartoffeln achtgeben. Mal wollen die bösen Kartoffelkäfer sie fressen und mal sind sie von Kartoffelfäule betroffen. Und wenn sie dann groß sind, werden sie geerntet. Geerntet wird nicht die giftige Frucht, sondern die im Boden liegenden Knollen. Die Knollen werden im Keller gelagert. Die Kartoffelknolle darf nur wenig Tageslicht abbekommen, damit sie nicht giftig wird. Meistens werden die Kartoffeln während eines langen Winters alle verzehrt. Und wenn der Winter vorbei ist und im Frühling wieder alles zu wachsen anfängt, gibt es schon bald wieder die nächsten Frühkartoffeln. Und später im Jahr gibt es dann die reguläre Kartoffelernte. So ist der Kartoffelkreislauf auf einem Ponyhof.

Ich danke @tollwutbezirk für das Lektorat.


Scheitern lernen

- in: ideas society

Den spannendsten Gedanken der re:publica gab mir Regine Heidorn mit. Den Gedanken des Scheiterns. Seit nun zwei Tagen geht mir der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, dass wir das Scheitern lernen müssen. Egal, ob “wir” gerade die Piraten sind, oder die Netzgemeinde. Ich glaube, scheitern sollten alle lernen. Dazu soll es im November auch ein Barcamp geben.

Das Eingeständnis, etwas nicht hinzubekommen ist nicht der Untergang der Welt. Wenn wir die Netzneutralität durch die Telekom gerade kaputt machen lassen, ist das ziemlich doof, aber wir werden davon nicht sterben. Wenn die Piratenpartei den Einzug in den Bundestag vergeigen wird, ist auch das allenfalls ein Beinbruch, nicht aber das Ende der Idee, für die sie sich mal gegründet hat und für die noch immer viele viele Piraten täglich streiten (im guten wie im schlechten Sinne).

Es ist allerdings auch wichtig, den Moment zu sehen, wenn weitere Aktivitäten nichts bringen. Manchmal ist es auch besser zu erkennen, dass das Leben auch noch aus anderen Dingen besteht und all dem Pathos (wie auch Sascha Lobo ihn fordert) zum Trotz keine weiteren Kampagnen mehr fährt, sondern zur Ruhe kommt, in sich geht und guckt, worum es eigentlich geht. Ob sich inzwischen nicht auch neue Wege aufgetan haben, wie die einstigen Ziele erreicht werden können. Vielleicht stellt sich sogar heraus, dass die einstigen Ziele überholt sind und die Aktivitäten nur noch aus Routine weiter betrieben werden.

Die Lage hat sich die letzten Jahre über verändert - sind die Methoden, die wir nutzen, noch die Richtigen? Und wie schaut es eigentlich mit den Zielen aus? Die Piratenpartei hat großartige Programme entwickelt, die ich sehr ungern in Schubladen verschwinden lassen würde, aber sind die Strukturen der Partei funktional in Ordnung, sodass die Partei auch tatsächlich Politik betreiben kann, oder braucht es vielleicht noch viel Hirnschmalz für bessere Strukturen, die uns besser arbeiten lassen? (Wie Möglicherweise die Ständige Mitgliederversammlung ein gutes Strukturupdate sein könnte?) Mir ist dabei wichtig, dass wir nicht einzelne Aspekte (wie hier möglicherweise die SMV) zum Allheilsbringer vergöttern, denn Sicher, wird eine Anpassung nicht alle Probleme der Welt lösen. Vielleicht sind einzelne “Updates” sogar ein Rückschritt, aber wir werden es nicht herausfinden, wenn wir es nicht probieren. Vielleicht kommen in 2 Jahren die Bedenkenträger, wie sie heute schnell diffamiert werden, und werden all ihre Bedenken bestätigt sehen und dann ist es an uns allen, das Scheitern einzugestehen. Vielleicht geht es danach in eine andere Richtung weiter, vielleicht wird der Schaden für die Partei sogar irreparabel, aber ich glaube, wir sollten uns darauf einlassen.

Einst bezeichnete ich die Piratenpartei als Atombombenexperiementierfeld und behauptete, der Point of no return sei überschritten. Heute bin ich mir sicher, dass das falsch war. Es gibt immer ein Zurück. Und die Partei testet auch (noch) keine Atombomben, sondern allenfalls eine Atombombensimulation. Wenn die kaputt geht, müssen wir wohl ein neues Wiki aufsetzen und eine neue Partei machen. Oder vielleicht auch ohne Wiki. Oder vielleicht auch ohne Partei aber trotzdem die gleichen Zielen. Vielleicht haben wir bis dahin auch ganz andere Ziele und erkannt, dass die bisherigen falsch waren. Wichtig ist, dass wir darüber nachdenken, was wir eigentlich tun und uns selbst nicht aus Betriebsblindheit kaputt machen. Wir sind ein Experiement, wir dürfen scheitern. Aber lasst uns das Experiment dokumentieren, damit es ggf. beim nächsten Mal besser gelingt. So lange es nichts besseres gibt, bleibe ich bei meiner Spielpartei.

Kommentare

von: karin

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ja, man muss manchmal den Moment erkennen in dem man aufhört zu kämpfen… Aber man muss bereit sein immer wieder aufzustehen und es weiter zu versuchen! Die Netzgemeinde lebt, wir sind viele und wir werden nur scheitern, wenn wir nicht endlich aufhören uns im Selbstmitleid zu baden… Ich zitiere mal die neue politische Geschäftsführerin der Piraten: Wir müssen uns den Arsch aufreißen und die anderen Parteien (ergo: ALLE PARTEIEN) vor uns her treiben!

von: Regine Heidorn

Im Bereich der Politik ist der Umgang mit dem Scheitern besonders tabuisiert. Schließlich hängt einerseits für sehr viele Menschen sehr viel von politischen Entscheidungen oder dem Aussitzen von Entscheidungen (Aussitzen - das Scheitern der Politik) bzw dem Nicht-Entscheiden ab. “Our job is to get government used to the idea of failing.” http://www.pbs.org/idealab/2013/03/reducing-the-fear-of-innovation-and-failure-at-city-halls072.html In manchen Unternehmen gibt es bereits abgegrenzte Räume (zeitlich, örtlich), in denen experimentiert werden kann, Scheitern darf sogar provoziert werden.


Spielpartei

- in: politics society

Oder: warum ich nicht austrete.

Die Piratenpartei ist eine Spielpartei. Wir haben wenig, wir können nur wenig verlieren.

Ich mache den Scheiß nicht, weil ich mir die Bestandsdatenauskunft auf den Sack geht. Ich mache den Scheiß sogar trotz den ekelhaften Maskulinisten in dieser Partei. Ich mache den Scheiß, weil es eine Spielpartei ist.

Ich glaube, diese Partei ist ein unglaublich krasses Experiment und ich möchte gerne herausfinden, was wir noch alles in dem Experiment lernen können. Vielleicht scheitert es. Vielleicht geht es aber auch gut.

Die Gesellschaft erlebt eine so umfassenden Neuausrichtung, dass ich es für unbedingt erforderlich halte, dass wir eine neue Politik wagen müssen. Technischer Fortschritt rationalisiert lange Zeit fest geglaubte Arbeitsplätze weg. Die Idee der “Vollbeschäftigung” ist Geschichte. Der kulturelle Unterschied zwischen Berlin und Schollene, dass Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, keine 100km von Berlin, ist größer, als der zwischen Unterschied zwischen Berlin und Tokyo. Die Idee der Nationalstaaten wird zerfallen. Ich sehe einen Politikverdruss, wie es ihn in der Neuzeit noch nicht gegeben hat - und auch der hält sich nicht an Grenzen. Ich bin überzeugt davon, dass wir die aktuellen und vor allem die kommenden Probleme nur mit neue Formen der Mitbestimmung wie Liquid Democracy gelöst werden können.

Vor allem aber sehe ich keine bessere Gesellschaftsschmiede, als die Piratenpartei. Es mag sein, dass sie absolut schlecht ist und noch dabei schlechtes tut. Aber wenn nicht in dieser Partei, wo testen wir dann neue Gesellschaftsformen? Wo können wir an der gesamten Gesellschaft besser ausprobieren, wie die Gesellschaft in Zukunft aussehen wird? So lange es nichts besseres gibt, als die Piratenpartei, in der wirklich Gesellschaft mit all ihren Problemen gelebt wird - so lange werde ich diese Plattform nutzen um Gesellschaft zu entwickeln und zu testen. Wo auch immer ihr das tut, bitte hört nicht auf, an eine bessere Gesellschaft zu glauben und für eine bessere Gesellschaft einzustehen. Ich glaube, das Gesellschaftsupdate ist dringend.

An dieser Stelle ganz herzlichen Dank für die sehr viele Arbeit an Herrn Urbach und Ennomane.

Kommentare

von: Gero

Es waren Anlässe, die sie austreten lassen haben, keine Gründe. Ich weiß von beiden, dass sie seit einigen Monaten darüber nachdachten, die Partei zu verlassen. Das jetzt waren nur Anlässe. Die Gründe gibt es seit Monaten (und davon sehe auch ich genug).

von: johannes

die weisheit “wo wenig zu verlieren ist, ist auch wenig zu gewinnen.” finde ich gut. ich persoenlich halte es fuer viel was sich gewinnen laesst: eine organisation darstellen die wirklich als ein ort der politischen willensbildung funktioniert. ich glaube, dass es viel zu verlieren gibt: das erreichte verspielen. die piraten sind bekannt als gut aufgestellte alternative zu den bekannten atzen. manche sagen vlt zu leichtfertig: wat solls, es bedarf meiner nich, ich such mir was anderes, statt: “I´ll stand my ground.” naja, so halt.

von: Gero

Stimmt, die OpenMind ist super. Die letzten zwei Jahre war ich auch da und dieses Jahr werde ich auch wieder hinfahren. Aber die findet leider nur 1x im Jahr statt - und das restliche Jahr will ich auch irgendwo Utopien entwickeln :)

von: Thobias

Vor allem aber sehe ich keine bessere Gesellschaftsschmiede, als die Piratenpartei. > fahre zur openmind

von: Gero

Diskussionskultur ist ein sehr großer Teil der Gesellschaftsschmiedekunst. Kultur als solches macht eine Gesellschaft aus. Hätten wir eine gute Kultur, bräuchten wir diese Partei nicht. Wir brauchen sie aber, gerade weil wir ganz viele neue Probleme noch nicht gelöst haben und dies zeigt sich unter anderem am Umgang miteinander, der in der Tat sehr schlecht ist.

von: Michael K.

Um eine gute “Gesellschaftsschmiede” zu sein, bräuchte es eine Diskussionkultur, die tatsächlich das Ziel hat Verbesserungen zu erreichen. Das funktioniert aber gerade nicht.

von: Ansgar Michels

Wenn ich mir die Austrittsbegründungen ansehe (Urbach: Das geht euch nichts an, Ennomane: Die haben im Forum ein Plugin aktiviert, das mir nicht passt, ich muss es zwar nicht aktivieren, aber das reicht mir nicht), bin ich vom Durchhaltevermögen beider etwas enttäuscht.

von: Gero

Ich glaube, dass wir tatsächlich viel gewinnen können, aber verlieren? In meiner Wahrnehmung hat die Partei eher wenig erreicht - und ich bin um das erreichte auch eher nicht traurig, wenn das nichts wieder verschwindet. “gut aufgestellte Alternative” sehe ich nicht. Nirgends.


Konkurrenz

- in: ideas society

Vorweg: Vielen lieben Dank an @rya für das 2. Augenpaar!

Lange zögerte ich, in die Piratenpartei einzutreten, weil ich Parteien lange Zeit nicht für die richtige Organisationsform hielt, etwas an der Welt in die richtige Richtung zu schieben. Seit jeher geben mir Parteien ein merkwürdiges Gefühl (Nicht nur die Piraten, auch die Grünen fühlten sich merkwürdig an, als ich bei Malte Spitz Praktikant war).

Was genau das war, konnte ich lange nicht in Worte fassen und war nur ein diffuses Gefühl von “was passiert da komisches?”. Im April bin ich den Piraten beigetreten, weil ich glaubte, diese Partei sei die Institution, die die Macht habe, unsere Gesellschaft nachhaltig zu verändern - zu einer toleranteren, offeneren und politischeren Gesellschaft. In der Piratenpartei sah ich viele Menschen, die sehr ernsthaft an einer neuen Gesellschaft arbeiteten und ich vernahm die Hoffnung, dass dies gut ausgehen könnte - und wollte ihr dabei helfen. Schließlich kandidierte ich für den Landesvorstand und wurde auch gewählt. Ich übernahm den Geschäftsordnungsbereich Liquid Feedback und kümmere mich seither organisatorisch um Liquid Feedback, das von den Piraten eingesetzte Liquid Democracy-Tool. Ich halte dieses Tool für unglaublich mächtig und bin überzeugt davon, dass es der Gesellschaft Gutes tun kann.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, was mich so lange von Parteien ferngehalten hat. Es ist die Konkurrenz. Parteien sind konkurrierende Institutionen - sowohl die Parteien untereinander als auch parteiintern. Und ich habe damit ein Problem. Nein, Konkurrenz ist nicht per se schlecht, doch kann Konkurrenz durchaus merkwürdige Züge annehmen. Seit Jahren schleicht sich zunehmend der Neoliberalismus in die Gesellschaft und die zwischenmenschliche Konkurrenz wird stärker. Das Abitur wurde auf 12 Jahre verkürzt, damit die Schüler international konkurrenzfähiger seien. Es wurden Bachelor und Master eingeführt - Masterplätze begrenzt, ein heftiger Konkurrenzkampf um die Masterplätze entsteht - z.T. werden wichtige Bücher in Bibliotheken zerstört, um strategische Vorteile zu bekommen. Hartz4 wurde eingeführt und Geschichten über faule Sozialschmarotzer werden erzählt, wie sie uns auf der Tasche liegen.

Mit dem Refugeecamp auf dem Pariser Platz beginnt gerade ein längst überfällige Flüchtlingsdebatte. Seit Jahren werden die Außengrenzen Europas verstärkt, das Mittelmeer durch Agenturen wie Frontex komplett überwacht, Flüchtlingsboote zum Umkehren aufgefordert - auch auf die Gefahr hin, dass sie kentern könnten. Zugleich nehmen internationale Spekulationen massiv zu, die Schere zwischen Arm (und häufig weniger gebildet) und Reich (häufig mit viel Geld jede Bildung erkauft) nimmt zu. Selbst Lebensmittel werden verspekuliert - und mit der Subventionspolitik der EU auch gebilligt, wenn nicht gar gefördert.

Die insbesondere in der Piratenpartei sehr heftige Auseinandersetzung um eine mögliche Frauenquote sehe ich ebenfalls für ein Symptom dieser zunehmend konkurrierenden Gesellschaft. Slogans wie “Kompetenz statt Geschlecht” führen dazu, dass Männer massiv gefördert werden - mit der nahe liegenden Folgerung, dass Frauen inkompetent seien. Es setzt sich durch, wer das Spiel der Konkurrenz besser beherrscht und sich weniger um andere kümmert - und dies sind häufig Männer. Die Diskussion, dass die Quote nur die Symptome und nicht die Ursachen bekämpft ist ein Henne-Ei-Problem. Wenn wir gute Leute, die auch auf andere Acht geben haben wollen, wie können wir dies durchsetzen, wenn wir keinen geschützten Raum anbieten? Und wenn Frauen häufiger im Konkurrenzkampf nachgeben, ist dies nur ein weiteres Argument dafür, dass wir mehr Frauen auf allen Ebenen brauchen. Im Zweifel für die Quote.

Alle Menschen, die sich irgendwo angreifbar machen, werden angegriffen. Johannes Ponader wagt sich häufig weit aus der Deckung heraus, um auch progressiv neue Themen zu besetzen und ist regelmäßig Ziel eines Shitstorms. Ähnlich sehe ich es auch mit Julia Schramm, die immer wieder provokant auftritt. Ich finde dies gut und wichtig.

Auch in dem Fall Marina Weisband und dem Spiegel sehe ein krasses Konkurrenzproblem. Marina ist ohne Frage das bekannteste Gesicht der Partei und hat eine sehr ausgewogene Art, Themen vorzubringen, ohne sich dabei zu weit vor zu wagen. Damit ist (war?) sie sehr erfolgreich und ich nehme einen sehr massiven Neid ihr gegenüber wahr. Insbesondere die Erwiderung von Merlind Theile kommt in einem sehr schnippischen Ton daher, die jegliche inhaltliche Auseinandersetzung unterbindet. Die Schlussfolgerung von ihr, dass die Piraten nun ihre eigenen Ziele mit Füßen treten, versucht die Debatte als Parteidebatte abzutun und den Piraten Versagen vorzuwerfen. Ich halte diese gesamte Aktion für ein billiges “Klicks generieren”. Die Piraten selbst nehmen derartige Artikel immer wieder zum Anlass, ausführlich drüber zu debattieren und sorgen damit für eine massive Öffentlichkeit für solche Artikel, statt sie einfach zu ignorieren. Sie sind Teil des Konkurrenzkampfes.

Jegliche Personaldebatten sind Konkurrenzdebatten. Ich halte es für vollkommen irrelevant, wer welche Position in welcher Partei (oder auch außerhalb der Partei) inne hat. Es geht darum, wo was passiert, was die Gesellschaft in die tolerantere, offenere und politischerere Richtung schiebt. Debatten, wie sie gerade um Birgit Rydlewski geführt werden (Ob Politiker auch anzügliche Dinge twittern dürfen oder nicht) ist für mich ein massiver Einschnitt in das, was ich mir von der Partei erhoffe. Es ist eine offene und authentische Äußerung von Birgit, sich auch zu langen Sitzungen zu äußern. Wenn Medien dies hochstilisieren, ist dies ein Medienproblem und keins von Birgit. Niemand wird gezwungen, ihr auf Twitter zu folgen und zu lesen, was sie so von sich gibt. Wenn die Bild oder SPON derartige Themen aber aufgreifen und mit pseudomoralischen Ansichten kommen, dass dies schlecht sei, ist das eine Verdrehung unserer Ansichten. Wir (ich jedenfalls) kämpfe in der Piratenpartei dafür, dass auch solche Äußerungen fallen dürfen, ohne, dass es zu einem Gate hochstilisiert wird.

Dass es dennoch immer wieder zu einem Gate hochstilisiert wird, nehme ich sehr verzweifelt wahr. Ich habe inzwischen auch hier die Vermutung, dass es um einen insgeheim ausgetragenen Konkurrenzkampf geht - und nicht mehr um die eigentlichen Inhalte. Wer beginnt einzelne Köpfe heraus zu picken und zu bekämpfen (innerhalb und außerhalb der Partei), gibt sich diesem Konkurrenzkampf hin. Wenn wir nur noch unfehlbare oder verschlossene Politiker hervorbringen, die sich der Gesellschaft, deren Medien mit prüden Ansichten versuchen die Bewegung klein zu halten, haben wir den Kampf um eine offenere, tolerantere und politischere Gesellschaft verloren.

Der Kampf beginnt intern mit den Diskussionen um den Bundesvorstand, um einzelne Abgeordnete und damit, wie wir “nach außen” wirken wollen. An dem Punkt, wo uns die Außenwahrnehmung wichtig wird, als unsere Inhalte, haben wir uns dem Konkurrenzkampf der alten Parteien unterworfen und spielen ihr Spiel mit. Ich hoffe, dass wir damit wieder aufhören und wir uns dazu äußern, was uns und nicht irgendwelchen Medien wichtig ist und uns nicht einzig und allein der Konkurrenz wegen streiten.


Von Smartphones, Nerds und Filterbubbles

- in: society tech science

Ich war 3 Wochen offline in einer Kleinstadt in Frankreich und habe mich so gut gefühlt, wie seit Monaten nicht mehr. Ich bin 2 Tage zurück in Berlin und fühle mich schlecht. Und ich glaube, es hat mit Umgangsformen zu tun, über die ich schon seit Monaten nachdenke, aber mir die Intensität erst jetzt bewusst wird. Der Text ist ad-hoc entstanden und möglicherweise habe ich viele Dinge dabei vergessen.

Vielleicht sind es Nachwirkungen von Heideggers Ausflug in die Technikphilosophie (Vorsicht Webseite ist wenig schön, habe “die Frage nach der Technik” und “die Kehre” aber nicht in schöner gefunden), mit der ich mich vor 2 Jahren länger beschäftigt habe. Vielleicht ist es auch die gebetsmühlenartige Technikangst, die gerade von älteren Menschen immer wieder angesprochen wird. Vielleicht interpretiere ich auch zu viel hinein. Trotzdem will ich ein paar systematische Gedanken aufschreiben:

  1. Das Smartphone ist eine wunderbare Erfindung. Die Arbeitserleichterung lässt sich kaum in Wörter packen. Egal, ob ich beim Trampen eine Karte brauche, das günstigste Hostel in Laufnähe suche oder zwischendurch wichtige Mails beantworten kann. Es ist verdammt praktisch und möchte es nicht missen - und doch ist es ein riesiges Problem. Es macht uns unfrei. Wenn es piept, gehen wir ran. Die allermeisten Menschen tun dies immer. Wenn sich zwei Menschen miteinander sprechen, und das Handy piept oder blinkt, wird die Konversation unterbrochen für etwas, das warten kann. Immer. Wir aber (und ich nehme mich da nicht aus) gucken doch mal kurz, was da eigentlich blinkt. Das wir in eben diesem Moment unsere Konzentration vollkommen auf das Smartphone gerichtet ist, statt auf den Menschen, mit dem wir eigentlich reden, wird uns häufig nicht mal bewusst. Es ist eine zu tiefst unsoziale Handlung, die wir tätigen. Und (und das ist der Knackpunkt), wir tun diese Handlung des Missachten der anderen Person nicht einmal als bewussten Akt, sondern wir lassen uns von dem Blinken(!) eines Gerätes dazu verleiten, so unsozial zu handeln. Kaum eine Person möchte bewusst so unsozial handeln, aber das Smartphone, sowie ein diffuses Gefühl von “das machen wir alle so und darum ist es richtig” verleiten uns dazu.

  2. Nerds sind sozial inkompetente Menschen. Nerds wollen sich lieber Technik zuwenden, als Menschen. Das ist die Definition des Nerd. Dazu kommt, das es inzwischen cool, oder “hip” ist, Nerd zu sein. Ein diffuses Gefühl besagt, es ist toll ein Nerd zu sein. Gewissermaßen sind die Nerds die Superhelden der Neuzeit. Nerds halte ich für unglaublich bemitleidenswerte Menschen - und zwar vor allem, weil sie bemitleidet werden wollen, weil sie ja so sozial inkompetent sind, dass sie keine (kaum) Freunde haben und sich deshalb lieber mit Technik beschäftigen. Und eigentlich wollen sie das gar nicht, sondern wollen nur in den Arm genommen werden und Freunde haben - was aber nicht geht, weil sie damit ihren Status verlieren würden und nicht mehr als bemitleidenswerte Wesen gesehen werden würden. Und eben dies finde ich wirklich bemitleidenswert. Sie haben ihre Freiheit für einen Status aufgegeben, der vor allem daraus besteht unsozial zu sein. [update] Wer dies nicht sieht, möge doch bitte auf die Nerds in der eigenen Timeline achten. [/update]

  3. Die Filterbubble entstand mit der fortschreitenden Technik, die es erlaubt, sich seine eigene Welt zu konstruieren. Ich muss nicht mehr mit meinen Nachbarn unterhalten, ich kann jetzt auch telefonieren und chaten. Gewissermaßen ist das ein Zugewinn an Freiheit, weil es mehr Möglichkeiten gibt. Auf der anderen Seite ist es ein Verlust von Freiheit, weil die Filterbubble nur über Daten funktioniert, Menschen aber keine Daten sind. Mit standardisierten Zeichen lässt sich die Welt nicht 1:1 abbilden. Die Realität ist nicht nur ein Foto und auch kein Video - in beidem fehlen z.B. Gerüche. Die Welt lässt sich nicht vollständig maschinenlesbar darstellen und wiedergeben. Daraus folgt, dass die Filterbubble nur mit einer Komplexitätsreduktion funktioniert und zugleich die Fülle an Komplexität in der offline-Welt ausblendet, oder zumindest verschleiert. Es handelt sich dabei nur noch um pseudo soziale Aktionen. Es ist zwar nett, eine DM oder Mention mit “<3” zu schicken, aber eine Umarumung kann es doch nicht ersetzen. Da wir aber in unseren Filterbubbles gewissermaßen fest hängen (und unsere Nachbarn doch nicht kennenlernen), sorgt die Filterbubble für eine soziale Verarmung. Wir, die wir ins Internet gehen, um unsere Freunde zu treffen, merken kaum noch, dass es noch so viel mehr Möglichkeiten gibt, in Interaktion miteinander zu treten, als Chaten, Twittern oder auch mal zu Skypen. Unsere sozialen Interaktionen sind dadurch unglaublich begrenzt.

Ich nehme mich nicht aus und glaube auch nicht, dass ich da groß anders agiere als viele Freunde von mir, aber es stört mich zunehmend mehr. Und das ist auch der Grund, warum ich mich nicht mehr unbedingt mit anderen Nerds treffen will - und wenn, dann unglaublich alergisch darauf reagiere, wenn beim Spieleabend doch das Smartphone raus geholt wird. Es ist eine Beobachtung, die ich sehr bedenklich finde - und ich fürchte, dass diese Beobachtung bald auf die gesamte Gesellschaft zutreffen könnte. Diese “digitale Welt” halte ich für wenig lebenswert und hoffe, dass “uns” noch ein paar gute Ideen einfallen, wie wir diese Welt deutlich lebenswerter machen können.

Kommentare

von: Sven

Zu Punkt 2: Wenn Nerd als Modeströmung wie Emo, Goth, Punk, Raver, usw verstanden wird, wobei man sich für das eine oder das andere entscheidet, mag das zutreffen. Die meisten Leute die ich kenne, auf die die Bezeichnung Nerd zutreffen würde, interessieren sich für Dinge, ob technisch oder nicht, ohne sich für das Thema “sozial (in)kompetent” zu interessieren. Da diese Leute sich nicht definieren oder abgrenzen wollen fehlt da wohl der Bedarf so etwas herauszustellen. Selbstmitleid scheint mir dort recht fremd zu sein.

von: Gero

Ich gehe davon aus, dass die Unterscheidung von “Nerd als Modeströmung” und “Nerd als Technikfreak” nicht zu trennen ist. Klar gibt es darin unterschiedliche Ausrichtungen und Stimmungen, wie auch die Nerds eine heterogene Gruppe sind. Und es geht auch nicht darum, ob sich Menschen für soziale Inkompetenz interessieren (nein, das tun sie wohl wirklich nicht), sondern darum, wie sie mit der Gesellschaft umgehen. Menschen, die sich so krass viel mit Technik beschäftigen neigen dazu, auch den Menschen nur als sehr komplexe Technik anzusehen. Das sorgt für die soziale Inkompetenz. Das Selbstmitleid entsteht, wenn sie sich dessen bewusst werden (was doch immer mal wieder passiert) und eigentlich aus der Rolle des Nerd heraus wollen, es aber nicht können, weil ihr gesamtes Denken darauf ausgelegt ist. Und das ist, so behaupte ich, auch einer der Gründe für die sehr hohe Depressionsrate der Nerds.

von: Isarmatrose

Dein letzter Absatz beinhaltet, dass du von dir als “unsoziales” Verhalten mit von der Gesellschaft als “unsozial” definierten Verhalten beantworten möchtest? Du hast mit deinen Beobachtungen ja Recht, aber deine Schlussfolgerung greift zu kurz. Unsere Gesellschaft muss sicher lernen mit den neuen Kommunikationsmittel umzugehen, aber vor einer derartigen Herausforderung standen wir ja schon oft. Wird schon. ;-)

von: Julia Seeliger

Ein ♥ für Nerds!

von: map

Gero, ich lese in deinem Blogpost vor allem Intoleranz und (Selbst-?)hass. Das finde ich schade. Um nicht zu sagen bemitleidenswert. Deine Küchenpsychologie in den Kommentaren auch.

Unterm Strich bedeutet Nerd sowieso nichts mehr - dazu muss mensch nur mal auf der campusparty vorbeigucken - und ich höre zunehmend auf mich so zu nennen, ausser als Shortcut für “technikaffin”.

von: tante

Unzufriedenheit mit einer sich selbst abkapselnden Bubble von “Nerds” schön und gut und mir ist das dann doch zu pauschal.

Du baust hier eine Dualität Digital/Analog auf mit einer leichten Überhöhung des Analogen ohne dafür Gründe zu liefern, eine Stoßrichtung, die im Aufsatz “The IRL fetish” schön zerlegt wurde (http://thenewinquiry.com/essays/the-irl-fetish/).

Du hast ein Problem mit den sozialen Konventionen Deines Umfelds - und sowas nervt kollossal! - aber die Übertragung aufs Allgemeine ist leider nicht schlüssig.

von: Gero

Ich würde es nicht (selbst-)Hass nennen, aber klar bin ich unzufrieden, ja. Im Übrigen habe ich auch bewusst “Nerd” gewählt und nicht “Hacker”, um auch die Campus-Party-Leute mit einzubeziehen. In meiner Wahrnehmung begrenzt sich das nicht auf “unsere” Twitter-Filterbubble. Zumindest nehme ich das auch in vollkommen anderen Kontexten war.

Und um es hier auch nochmal klar zu machen: es geht mir nicht darum, irgendwen zu diskreditieren. Es geht mir ganz und gar nicht darum, den Nerds zu sagen, sie seien Doof. Das war so gar nicht die Intention des Blogposts.

von: Gero

Ich kann die Wahrnehmung nicht empirisch unterlegen - und will es auch nicht. Es geht hier um meine Wahrnehmung. Punkt. Mir geht es dabei auch nicht um “Digital/Analog” oder “Online/Offline”, sondern um die Art und Weise, wie “wir” miteinander umgehen. Und den Umgang kritisiere ich. Und ich glaube, dass es eben nicht nur mir so geht, sondern einigen anderen auch, weshalb ich meine Gedanken nicht für mich behalten habe, sondern verbloggt habe.

von: @vieuxrenard

Küchenpsychologie hin oder her, aber bei den sozialen Umgangsformen hat Gero schon Recht: eine RL-Konversation wg. irgendeiner Mention zu unterbrechen geht mal gar nicht - und muss auch nicht sein. Ich hab’s mir jedenfalls wieder abgewöhnt und lebe sehr gut damit. Alles auf Twitter & Co. kann warten - vielleicht mit Ausnahme des einen oder anderen DM-Fail ;-)

Insofern würde ich an den @isarmatrosen anknüpfen: Es wird schon, sicher, aber nicht von alleine. Jeder muss für sich die Balance zwischen Virtuellem und RL finden. Gute Freunde können dabei helfen, gerade wenn sie selbst “Nerds” sind, indem man einfach ausmacht: Wenn wir reden, bleibt das Handy in der Tasche. Das geht, echt!

Das Zurechtfinden im RL ist zwar 1000fach schwieriger als zB auf Twitter, aber eigentlich geht’s nur darum. Ich bin mir sicher, dass das letztlich auch fast alle Nerds so fühlen. Ob sie’s (sich / anderen) eingestehen, ist natürlich eine ganz andere Frage.


Mailinglisten

- in: tech society

Mailinglisten sind das Urgestein des Internets - quasi die Mailboxen, die es schon in den 80er Jahren gab, bevor das World Wide Web überhaupt erfunden war (das kam dann erst mit Tim Berners-Lee 1990). Aus diesem Grunde kenne ganz viele Menschen, die sich schon lange im Netz bewegen die Mailinglisten so gut und nutzen sie auch gerne. Und für “Never change a running system” scheinen Mailinglisten das Paradebeispiel zu sein.

“Wer etwas vom Internet versteht, nutzt auch Mailinglisten” könnte die nerdige und schnelle Schlussfolgerung sein. Und gefühlt ist es auch so. Leider.

Mails lassen sich schon ganz super auseinander nehmen und einzelne Passagen zitieren und darauf antworten (deutlich besser als in Briefen auf Papier). Bei normalen Mails zwischen 2 Personen ist das auch häufig hilfreich, um kurz und präzise zu erörtern, was es zu erörtern gilt. Dies kann auch in einem kleinen Kreis funktionieren - muss es aber nicht. Und häufig funktioniert es gar nicht.

Wenn eine Mail auseinander zitiert und erörtert wird, die Mail verfassende Person aber etwas länger nicht antworten kann, werden die verschiedensten Dinge von mehreren Leuten rein interpretiert und uminterpretiert. Die Person, die die ursprüngliche Mail verfasst hat, muss sich nun durch einen Wust von Mails durchkämpfen und verschiedenste Interpretationen beantworten. Häufig geht es dabei überhaupt gar nicht um die eigentliche Intention der Mail, die von der verfassenden Person gewollt war. Daher führt diese Diskussion (die auch schnell zum Flamewar mutiert) nur ganz selten zu einem tatsächlichen Erkenntnisgewinn. Das wiederum bedeutet, dass Mailinglisten keine besonders gut geeigneten Kommunikationsmittel sind.

Und daher lehne ich Mailinglisten ab und vermeide sie so weit es irgend möglich ist. Und ich rate euch: tut es mir gleich.

Kommentare

von: Ingo Jürgensmann

Dem muss nun aber widersprechen! Mailing listen sind zum diskutieren toll, allerdings mitunter recht komplex, da sich verschiedene Baeume/Threads entwickeln koennen. Je nachdem, wie man die Mails der ML abarbeitet, mag dann der Eindruck von Wildwuchs entstehen. Besonders schlimm wird es, wenn man dann noch selber meint, zu jeder kleinen Bemerkung auch noch selber eine Antwort schreiben zu muessen.

Eigentlich koennen Diskussionen auf MLs durchaus strukturiert und nachvollziehbar sein. Man muss aber auch selber ein bisschen dazu beitragen, es nicht zu einem Flamewar verkommen zu lassen.

von: Gero

Ja, Mailinglisten *können* gute Diksussionsforen sein. Müssen sie aber nicht. Und Gruppen, die sich genau ausgemacht haben, wie sie die Mailinglisten nutzen wollen, geht das auch. Häufig ist das aber nicht so. Da gibt’s keine Erklärung, was da eigentlich drauf gehört und was nicht - und sie werden über strapaziert und machen alles kaputt. Und dann besser ganz ohne MLs als auf kaputten. Jedenfalls für mich.


Ragen hilft nicht

- in: rant society

Ragen, Verb, aus dem Englischen, von “rage” (deutsch: Wut/Zorn), ist ein Tätigkeit des verbalen Wutauslassens. Häufig entsteht die Wut über eine Sachposition, wird in der emotionalen Debatte aber manchmal persönlich. Selbst wenn kein persönlicher Angriff gewollt ist, nehmen Kontrahänten es manchmal als persönlichen Angriff war.

Disputanten beginnen häufig zu ragen (in Rage zu verfallen), wenn veraltete, aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbare Positionen der Kontrahenten vehement verteidigt werden ohne auch nur ein wenig Einsicht zu zeigen. (häufiges Beispiele: Biologismus in Form von Sexismus, Homophobie, Rassismus)

Ragen ist hier oftmals als ein nahezu hilfloses “warum nur wollen Sie sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen, wenn sie sich dazu schon äußern?!?” zu verstehen. Es scheint, als würde alle wissenschaftlich fundierte Erkenntnis nicht wahrgenommen werden möchte, um den eignenen Standpunkt nicht aufgeben zu müssen. Dies führt zum (manchmal verzweifelnden) Ragen.

Besonders häufig geraget wird, wenn faktisch bevorteilte Menschen auf ihre Privilegien bestehen und dabei nicht bevorteilte Menschen (oft unbewusst) unterdrücken. Hier ist Ragen ein verzweifelter Versuch das Problembewusstsein zu schaffen. In der Eskalationsphase schließt sich häufig der Shitstorm an, wenn keinerlei Bewusstsein für die privilegierte Position erkennbar wird, wodurch eine Position manchmal aus Angst vor der größerwerdenden Öffentlichkeit zurückgezogen wird. Die Ragenden bezeichnen dies manchmal als Gewinn, denn die Sachposition (insbesondere in Parteien) oder die Werbung wurde zurück gezogen.

Wenn allerdings im Nachhinein an den Shitstorm/Rage keine ausführliche Erklärung stattfindet, halte ich es für einen Schein-Gewinn. Die beragete Person hat den Standpunkt nicht verstanden und sieht dieses Thema nun als schwieriges Thema an und meidet es. Das Problembewusstsein hat sich nicht eingestellt - und damit ist häufig eine weiter reichende gesellschaftliche Debatte über das Problem nicht möglich. Zumindest diese Person selbst wird kaum andere Menschen auf eben das gleiche Problem hinweisen.

Aus diesem Grund behaupte ich. “ragen hilft nicht”. Leider. Es bleibt: Aufklärung an alle Menschen, die sich aufklären lassen. Auch wenn Aufklären sie unglaublich viel mehr Arbeit macht, als ein kurz ragender Tweet. Hiermit möchte ich allerdings mitnichten den Ragenden irgendeinen Vorwurf machen. Sie setzen sich häufig für die richtige Sache ein und dies begrüße ich ausdrücklich!


Leben, Politische Korrektheit und Depression

- in: personal society

Ich hab den Aktivismus aufgegeben, um wieder mehr “echtes Leben” zu leben. Und die Entscheidung war gut - aber es reicht nicht.

Ich lehne aus politischen/ethischen/moralischen Gründen viele Lebenseinstellungen ab (wie ich es z.B. nicht lustig finde, sich über andere Menschen lustig zu machen - schon gar nicht aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung u.ä.) - und aus diesem Grund halte ich mich von vielen Menschen fern, die eben dieses tun. Irgendwie versuche ich ein diffus “politisch korrektes Leben” zu leben. So ohne massiven Drogenkonsum, möglichst ohne Ausbeutung anderer Menschen und mit möglichst wenig Gesetzeskonflikten (Generell finde ich nämlich Gesetze eine gute Sache).

Und ich werde das Gefühl nicht los, dass mir diese Lebenseinstellung einen großen Teil dessen, was ich eigentlich Leben möchte, “verbietet”.

Nein, mir geht es dabei nicht um den massiven Drogenkonsum und auch nicht darum, mich über andere Menschen lustig machen zu können. Da habe ich keine Freude dran. Mir geht es um eine leichtere Lebensweise. Mir geht es u.a. um Extremsport. Nicht, dass ich ihn selbst dringend machen muss - aber er ist ein gutes Beispiel dessen, was ich an meinem Leben nachhaltig vermisse. “Verrückte Dinge tun”

Menschen, die dies tun, haben diese “leichtere Lebensweise” (behaupte ich). Sie machen sich nicht zu viele Gedanken darüber, was passiert, wenn der Fallschirm nicht aufgeht - oder was passiert, wenn sie beim Skaten falsch aufkommen und sich den Arm brechen. Bei den Menschen, die dies tun, nehme ich überproportional häufig “Kackscheiße” wahr. Da wird den Mädels der Arsch gegrabscht und “schwul” als Schimpfwort genutzt. Aus eben diesem Grunde meide ich sehr häufig diese Menschen.

Ich schaffe es nicht einmal, ohne Helm Fahrrad zu fahren. Also, ich fahre schon auch ohne Helm (und habe auch keine Angst davor), halte es aber für eine äußerst gute Idee, mit Helm zu fahren (Es erhöht die Chance zu Überleben im Falle eines ersten Unfalls einfach massiv). Dazu kommt, dass ich längere Zeit als Fahrradkurier gearbeitet habe (ich kann also wirklich Fahrrad fahren ;-) ) - und mich in der Zeit daran gewöhnt habe, mit Helm zu fahren. Das mit-Helm-fahren wiederum führt dazu, dass jede Person, die mich sieht, sich denken muss “ach, der fährt mit Helm. Ist ja ein ganz sicherer …”. Oder zumindest interpretiere ich das in andere Menschen hinein, was wiederum dazu führt, dass ich mich eben so verhalte, als würde sie das denken - und versuche mich irgendwie abzugrenzen (weil die anderen ja ohne Helm fahren und bestimmt doof sind).

Natürlich ist das etwas überspitzt, aber zur Verdeutlichung, was in mir so für Gedanken sind, wohl ganz gut.

Und ich glaube, dass diese Haltung mich häufig in die Depression zieht. Das, was von außen wohl so aussieht, als hätte ich ‘nen Stock im Arsch. Und wahrscheinlich habe ich das auch - aber genau das ist es auch, weshalb mich von den Menschen, die das so sehen, abwende. Und übrig bleiben Menschen, die (ähnlich wie ich) sich sehr viele Gedanken zu allem machen und politisch korrekt leben.

Diese Menschen sind wahrscheinlich auch die allermeisten, die mein Blog lesen - und, ihr politisch korrekt lebenden Menschen: Ich mag euch. Ich mag euch sogar sehr - aber mir fehlt das “Verrückte Dinge tun”. Vielleicht tut ihr das die ganze Zeit, und ihr nehmt mich einfach nicht mit (was ich gemein fände!), vielleicht ist aber auch das verrückteste, was ihr tut, am Linux-Kernel mit zu programmieren. Ja, das ist irgendwie auch verrückt - und politisch super korrekt und wichtig. Und ich bitte euch, dies auch weiterhin zu tun, denn Linux ist super! - aber es ist nicht das “verrückt”, was ich meine. Mir verleiht so ein Linux-Kernel einfach keinen Adrenalin-Schub. Und das ist es, was mir in meinem Leben so häufig fehlt.

Update: Was mir so fehlt, in noch deutlicher:

Und das Video ist schon ganz schön kackscheiße.

Oder:

Weniger offensichtliche kackscheiße, dafür mehr krasse First-World-Probleme. Und das Gefühl den Rucksack nehmen zu wollen um für ne Zeit nach Indien zu gehen. Und dann das Problem haben, krass reicher Mensch aus dem Westen zu sein, der es sich dort quasi ausbeuterisch gut gehen lassen kann. Und womit ist zu rechtfertigen, das es mir so gut geht, wo ich so wenig arbeite - und warum es vielen Indern so schlecht geht, obwohl sie viel mehr arbeiten als ich. Müsste ich denen nicht all mein Haben geben? Krasse Gedankengänge in meinem Kopf. Aber so sind sie.

Kommentare

von: Julian

Kurz und knapp: Jammern auf hohem Niveau. Im Vergleich zu den meisten Menschen führst Du ein Leben auf der Überholspur, was den meisten schon verrückt genug wäre. Wieso um alles in der Welt sollte ein häufiger Adrenalinschub erstrebenswert sein? Weil die Welt, in der wir leben, eh schon verrückt genug ist, und man dadurch noch eines oben drauf setzen will, auf diese durchgeknallte Realität da draussen, die einen abstumpfen läßt?

Ist das dann nicht schon fast wie Ritzen, weil normale Reize schon nicht mehr wahrgenommen werden, und der Schmerz zeigt: “Ah, ich lebe ja doch noch.” Sind die Zeiten, wo man sich nach durchzechter Nacht alleine wohin setzt, und in Ruhe einen schönen Sonneaufgang beobachtet, und dieses als wunderschönes, einmaliges Erlebnis wahrnimmt vorbei?

Was ist so toll an Extremsport? Ist es der Adrenalischub? Oder vielleicht doch die Anerkennung, die einem andere zollen? Sofern sie einen nicht für total bescheuert halten. Naja, solange das Solidarsystem die auf die Schnauze fliegenden Skater, Kletterer, Fallschirmspringer, etc. auffängt, ist ja alles ok.

Bisschen überspitzt, komprimiert und unsortiert, aber das ist der Uhrzeit geschuldet :)

von: Gero

Du hast natürlich recht, dass ich schon einiges im Leben gemacht habe - und zugleich das “Leben” dabei ganz häufig zu kurz gekommen ist. Also ein Stück weit ist es auch die Frage: Warum das alles? Für was? Was an dem bisherigen Leben ist denn so unglaublich erstrebenswert?

Und ja, mich langweilt mein Leben. Ganz häufig, ganz massiv. Irgendwann ist die Zeit durch, die es besonders spannend ist, Demos zu organisieren, Politiker zu belabern, vagabundierend durch die Gegend ziehen, rumnerden. Das alles langweilt mich. Es langweilt mich, weil ich so selten eine Antwort darauf habe “Warum tue ich das eigentlich?”

Wo ist der Unterschied, ob ich mich als Aktivist in verschiedenen Gruppen kaputt arbeite, großartige philosophische Texte lese, oder einfach vor dem Fernsehen abhänge? Und warum tue ich letzteres nicht? Okay, ich habe keinen Fernseher - und das Fernsehen langweilt mich sogar noch mehr, als irgendwelche Demos zu organisieren. Und nein, Demos organisieren ist nicht langweilig - im Gegenteil eher echt stressig. Aber erfüllen tut es mich trotzdem nicht. Ich erkenne den Selbstzweck darin nicht. Das große Ganze fehlt mir dahinter. Ja, die Demos sind wichtig - aber was habe *ich* davon? Warum sollten wir das Internet retten? Für was? Wo ist das lebenswerte Leben dahinter?

Warum sind meine Freunde so häufig gegenseitige Hilfsbeziehungen? Warum habe ich so häufig Freunde um XYZ zu erreichen? Was hat mich so krass durchrationalisiert?

Ich habe neulich endlich mal den Kinderfilm Momo gesehen - und frage mich, ob wir nicht auch alle den grauen, rauchenden Männern auf den Leim gingen und nun unsere ganze Zeit rationalisiert wird. Aber was haben wir davon? Wo ist das Leben, das es sich noch zu leben lohnt? Zumindest suche ich eben dieses. Irgendwas, was nicht in irgendeiner Art und Weise nützlich für etwas anderes ist, sondern einfach Selbstzweck. Ein Leben, das mir irgendwas gibt. Freunde, bei denen ich nicht das Gefühl habe, wir sind nur Freunde, weil wir uns gegenseitig für ein gemeinsames Projekt brauchen - sondern welche, die ich gern habe, weil wir uns gegenseitig ganz ohne Hintergedanken wirklich gut verstehen. Dieses “normale Leben” - mit all dem, was es lebenswert macht. Irgendeine Art von Kick.

Ja, es gibt die Scheinweisheiten, dass die Kicks doch auch alle nicht das Wahre sind, und ein erfülltes Leben ohne funktionieren sollte - aber dem widerspreche ich. Ich glaube, dass jeder Mensch eine Passion braucht, die ihn erfüllt - und das sind nunmal häufig auch Adrenalinkicks. Und wenn es die nicht sind, dann gibt es aber eine echte Passion irgendwofür - und drum herum ein “normales” Leben mit echten Freunden. Und eben dieses fehlt mir. (Ja, ich habe echte Freunde und die sind auch toll. Aber es sind halt wenige - und aus einem sehr bestimmten aktivistischen/nerdigen Kreis - und darüber hinaus recht wenige).

von: Gero

Ich verstehe nicht ganz was du mir sagen willst. Genau genommen gar nicht. Was willst du mir dann sagen? Dass es mir ja so gut geht und ich mich nicht so anstellen soll?

Weshalb genau führe ich ein Leben “auf der Überholspur”?

Und: Nein, Ritzen (Selbstverstümmelung) ist nicht das gleiche wie Extremsport. Der Vergleich ist mächtig schief.

von: Julian

Bzgl. der These der (lebens)notwendigen Passion und der Kicks haben wir einen Dissens. Du hast doch bestimmt mal Siddhartha gelesen. Wie wirkte das Buch auf dich?

Und noch kurz zu den echten Freunden: wer behauptet, mehr als eine Handvoll zu haben, der weiss nicht, was echte Freunde sind. Von daher ist das imho voll ok, wenn du wenige hast, weil man viele nicht haben kann.

von: Karl

@Gero:

Hab grade dein Blog gefunden, gefällt mir! Kann sehr gut nachempfinden was du beschreibst. Vor so ca. 2 Jahren gings mir ganz ähnlich (da war so ein Höhepunkt, aber dieses Grundgefühl hat mich schon viele Jahre begleitet). Habe mich durch mein ständiges Alles-Hinterfragen, von allen Seiten beleuchten, mich und meine Handlungen analysieren, ein korrektes Leben zu führen usw. geradezu vom Leben abgeschnitten gefühlt, oder zumindest unfähig, einfach mal nur zu tun, einfach nur zu sein. (Vielleicht trifft das auch gar nicht so sehr deine eigene Verfassung, aber ich hab mich einfach in deinen Beschreibungen wiedergefunden, vor allem bei den Sachen, die du in deinem Leben vermisst.) Manchmal hilft wirklich nur, sich zu zwingen, einfach mal Sachen zu tun, Neues auszuprobieren ohne darüber nachzudenken, und sich aus den alltäglichen Strukturen rauszureißen. Einen Schritt dazu scheinst du ja schon gemacht zu haben, indem du dich vorerst vom allesfressenden Aktivismus zurückgezogen hast. Dadurch lernt man auch nochmal neue Leute kennen, die im besten Fall einen ganz anderen Zugang zur Welt haben (deine ‘Extremsportler’, bei mir wars ne Freundin, die Kunst gemacht hat) und deren Leichtigkeit einfach nur ansteckend ist.

Hoffe du schaffst es, deine Lebensweise und dich selbst so zu verändern, dass du Teile dessen, was dir fehlt, dazugewinnst und gleichzeitig das Gefühl behältst, du selbst zu sein.

@Julian:

Wie du hier angesichts eines Menschen, der offenbar in einer Sinnkrise steckt (und mit dem du zu allem Überfluss befreundet zu sein scheinst), mit den hinterletzten Binsenweisheiten um die Ecke kommst und dabei in jedem Satz seine Gefühle kleinredest, ist eklig. Die wenigsten Probleme lassen sich lösen, indem man jemanden damit zuschwallt, dass seine/ihre Probleme keine Probleme sind.

von: TollerMensch

Habe auch gerade diesen Blog hier gefunden und finde ihn nett, vor allem diesen Beitrag hier finde ich gut, kann mich darin teilweise auch gut wiederfinden.

Ich denke, das Problem ist nicht, dass man tatsächlich zu wenig erlebt, sondern dass man diese Dinge zu schnell annimmt und als nichts besonderes mehr ansieht. Mach dir einfach mal bewusst, was du für ein Leben führst! Woanders schreibst du, du würdest um die Welt reisen, Konferenzen besuchen, häufig umziehen, Demos organisieren, politische Diskussionen führen. Ist das nicht aufregend? Als du jünger warst, war das sicher eine Art “Traum”. Nur wenn man dann eben an dieser Stufe ist, nimmt man die Sachen zu schnell als gegeben an, “es macht ja jeder”, weil sich das soziale Umfeld auch entsprechend ändert. Aber die anderen, die machen die interessanten Dinge.

Als ich 16 war, habe ich von genau dem Leben, das ich jetzt führe, geträumt. Mit Freunden jede Gegend und jeden Winkel zu erkunden, die Nächte durchzucoden an geilen Projekten, 12 Stunden durch halb Europa zu Konferenzen zu fahren, auf riesige Hackercamps gehen, Dinge digital zu erkunden. Ich habe lange auf einen Job hingearbeitet, weil ich lange davon geträumt hatte. Aber noch mit der Zeit zwischen der Bestätigung und dem Jobanfang hatte es wieder seine Aufregung verloren, und ich sah dadrin nur noch eine Verpflichtung.

Und heute? Da denke ich auch, hätte ich mal was aufregenderes tun sollen, oder sollte jetzt was aufregenderes tun. Aber wenn man sich überlegt, was man in dieser Community erlebt, was man tut, wozu man beiträgt, dann ist das schon eine der aufregendsten Dinge, die man tun kann. Es ist von außen gesehen vielleicht nicht so, aber ich denke schon - es ist sehr viel aufregender ein solches Leben zu führen, als tagein, tagaus das gleiche zu machen, und wochenends dann zu feiern und ggf. mal einen bestimmten Sport zu machen, oder irgendein Erlebnisprogramm aufzulegen, damit man mal was besonderes macht (Fallschirmspringen, $Droge konsumieren, was auch immer). Das kann jeder.

Adrenalinschübe aus einer Gefahr heraus sind imho eine ziemlich eklige Sache. Im eigentlichen Moment sind sie unschön und man denkt an etwas komplett anderes, als was für einen Spaß man gerade habe bzw. wie toll es doch eigentlich ist, was man macht. Im Nachhinein bleibt dann eine schöne Geschichte, wenn es denn überhaupt folgenlos weitergeht, aber auf Dauer wird daraus auch nicht mehr werden als ein Hobby. Der Fallschirmspringer wird nach dem hundertsten Sprung sicher auch nicht mehr das Gefühl haben, er mache gerade etwas sehr besonderes, sondern es macht ihm einfach Spaß. Aber das Gefühl, das du bei sowas hättest, kannst du auch mit sehr viel einfacheren Dingen erreichen. Schon Segeln oder Klettern hat eine sehr ausgleichende Wirkung, oder mal bei schwerem Wetter mit einem Kajak (auch auf dem Wannsee) unterwegs zu sein. Wirklich lebensgefährlich oder unmoralisch wird das nicht, aber in dem Moment denkt man anders.

von: Gero

Es geht mir dabei gar nicht so sehr um die Adrenalin-Schübe selbst, sondern mehr um die Leute, mit denen man (gemeinsam) tolle Sachen macht.

Ja, ich mache viele tolle Sachen - und ich versuche mir das auch immer mal wieder bewusst zu machen - aber ich mache sehr viele von diesen tollen Sachen alleine. Also, ich mache sie natürlich nicht ganz alleine, aber es fühlt sich oft so an, als würde ich sie alleine machen. Auch wenn mensch im Internet ganz viele tolle Dinge auch mit anderen Menschen zusammen zu machen, ist es doch nicht das gleiche, wie etwas im RL zusammen zu machen. Das Verbindende Moment ist nicht da. Dabei bewegen wir uns physische nicht. Und wenn es nur das aus der Laune heraus entsandene Wettrennen ist, das spontane Volleyball- oder Federball-Spiel, das macht mensch mit anderen Menschen zusammen und mensch bewegt sich dabei, was zum besseren Wohlgefühl im Nachhinein führt. Es ist auch nicht so, dass ich keinen Sport mache - aber auch den mache ich zumeist alleine und auch wenn ich das im Nachhinein anderen Menschen im Jabber erzählen kann, ist es doch nicht das gleiche, wie gemeinsam Joggen gegangen zu sein. Und das ist so ein bisschen mein Problem.

Im nächsten Blogpost (zu der Hacking-Kommune) bin ich darauf ja weiter eingegangen und sehe das Problem (inzwischen) auch weniger darin, dass ich so wenig mache, oder mein Leben so langweilig ist, sondern dass ich mit den Leuten, die eine ähnliche Lebenseinstellung haben wie ich, einfach mehr zusammen tun sollte. Und da ich Biertrinken mit Kalendereintrag auch doof finde, halte ich es für die beste Möglichkeit einfach zusammen zu wohnen, dann kann mensch einfach nach Hause kommen und sich ein Bier zusammen nehmen - ohne allen Orgakram …


Frauen können Politik - Beispiel: Amnesty

- in: politics society

Frauen gehören in die Politik. Aber da sind sich wohl alle einig. Fakt ist: Es sind weniger Frauen als Männer in Parteien aktiv. Die Grünen haben eine Quote und damit mindestens 50% Frauenanteil in allen Gewählten Gremien - doch in der Partei haben aber selbst die Grünen nur 37% Frauen.

Häufig höre ich ein “Frauen können eben keine Politik” oder ähnliches. Dies zu diskutieren bin ich leid.

Anfang 2011 habe ich angefangen mich bei Amnesty International (in Freiburg) zu engagieren und schon damals ist mir der hohe Frauenanteil aufgefallen. Gefühlt waren es auch damals 2/3 Frauen - habe aber keine Zahlen, die das untermauern. Gestern nun habe ich es endlich zur Amnesty-Hochschulgruppe der HU geschafft und 11 Frauen zu 5 Männern beim Plenum gezählt. Finde ich gut. Aufgefallen ist mir auch, dass die wenigen Männer noch immer sehr präsent waren und der Sprechanteil von Mann zu Frau wohl bei der Hälfte lag. Ganz besonders ist mir aber die extrem angenehme Atmosphäre aufgefallen, die in Runden mit vielen Frauen häufig auftritt. Menschen lassen sich eher ausreden, fallen sich seltener ins Wort, Hacken weniger aufeinander ein, wenn sie Fehler machen.

Ich muss euch sagen: ich mag das.

Spannend finde ich auch, dass Amnesty, die erste mir auffallenden Organisation ist, die sich nicht explizit mit Frauen beschäftigt, das Engagement aber trotzdem mehrheitlich von Frauen voran getrieben wird. Eine Vermutung ist, es liegt an den relativ “weichen” Themen. “Menschenrechte” lassen sich selten mit einem “Ja/Nein” beantworten, es sind immer graduelle Prozesse, die in die richtige Richtung geschoben werden. Vielleicht ist es auch die relativ geringe Engagements-Hürde, die Amnesty “von Oben” durch gute Infopakete und fertige Petitionen schon vorgibt. Das bei männlich sozialisierten Menschen häufiger anzutreffende Beweisen, was sie tolles geschafft haben, fällt damit weg. “Sich beweisen, wie viele Unterschriften sie gesammelt haben” ist kein guter Beweis, wie toll man(n) doch ist.

Vielleicht liegt es auch wo ganz anders dran. Fakt ist: Frauen können Politik. Und sie machen dazu eine unglaublich wichtige Arbeit.

Kommentare

von: Jule

heiho,

ich bin auch bei amnesty (jugendgruppe) und bezüglich der ugend-/hochschulgruppenmilieus kann ich deine schilderungen total nachvollziehen. ich war allerdings letztens erst bei der jahresversammlung, und habe mich unter anderem mit leuten aus der kogruppe (koordinationsgruppe) menschenrechtsverletzungen an frauen unterhalten, die sehr eindrücklich von dem kampf um verschiedene frauenrechtsthemen innerhalb der deutschen sektion berichtet haben (zum beispiel gilt immer noch, für ganz amnesty, dass abtreibungen nur in fällen von vergewaltigung, inzest und “schwerwiegender” gefahr für die gesundheit der frau zu “entkriminalisieren” sind (also keine legalisierung). und amnesty deutschland hat sich sehr eingesetzt für striktere formulierungen u.ä.. außerdem hatte amnesty recht lange zeit null konzept zur geschlechtergerechten arbeit.) aber das ist vermutlich nur so zeug, das gerade von den älteren in der sektion stark vertreten wird, und wie gesagt, bei den jugend- und hochschulgruppen habe ich dasselbe gefühl wie du : )

von: Gero

Es ging mir in dem Blogpost auch nicht darum, ob Amnesty gute Frauen-Politik macht, sondern darum, dass dort eben viele Frauen politisch aktiv sind und dabei ganz wunderbare Arbeit leisten - ohne jedes Prollgehabe :)

Das Amnesty inhaltlich noch viele andere Punkte mit aufnehmen könnte/sollte/müsste in vielen Bereichen (wie ich es persönlich auch total super fände, wenn sie Überwachungstechnologien in ihre Waffendealsforderungen mit rein schreiben würden, (denn Überwachungstechnologien sind Waffen!)), darüber lässt sich lange streiten. Je mehr Forderungen sie formulieren, je stärker machen sie sich auch angreifbar. Irgendwann kommt immer der Punkt, wo einzelne Meinungen auseinander gehen - und je mehr Meinungen aufgenommen werden, je schwieriger wird es, allen Menschen damit gerecht zu werden ohne, anderen Menschen mit anderen Meinungen auf die Füße zu treten. Und wo Meinung anfängt und grundsätzliche Menschenrechte aufhören ist schon wieder Meinung, sodass es wirklich schwierig wird, da eine ordentliche Position zu finden. Und auch wenn ich gerne noch andere Punkte in den Amesty-Forderungen sehen würde, so bin grundsätzlich doch ganz zufrieden mit den Vorhandenen und mit Amnesty als super NGO :o)


Wo Kathrin Passig Irrt Und Ihre Algorithmen Kritik Kritik Falsch Liegt

- in: tech society

Ihr solltet ihren Artikel lesen. Ich gebe Ihr recht. Quasi in allen Punkten.

Algorithmen verdammen ist grober Unfug. Wir brauchen sie und können ohne sie nicht mehr klarkommen. Es ist egal, ob es die Banken sind, die darauf angewiesen sind, oder ob es unsere alltägliche Informationsverarbeitung ist. Wir können nicht mehr ohne Algorithmen in der heutigen Welt leben; und es sinnbefreit, Algorithmen als solches zu verdammen. Die Frage nach den “Ja” oder “Nein” zu Algorithmen stellt sich nicht.

Ich gebe ihr allerdings nur in quasi allen Punkten Recht. Algorithmen verdammen ist mit unter: feiner Fug.

Sie schrieb:<blockquote>Der Informatiker David Gelernter kritisierte im April 2010 in der FAZ im Zusammenhang mit Klimamodellen, die Softwaremodelle, auf die wir uns verließen, seien zu komplex. Ihre Urteile ähnelten “den unerfindlichen bürokratischen Diktaten eines kafkaesken Staats, denen fraglos Folge zu leisten ist, obwohl keiner sie erklären kann”. Der entscheidende Unterschied zum kafkaesken Diktat ist aber bei Empfehlungen wie bei Klimamodellen, dass man problemlos feststellen kann, wie zutreffend sie sind. Den empfohlenen Film sieht man sich an, beim Klima muss man ein paar Jahre warten, aber in beiden Fällen ist die Übereinstimmung von Prognose und Realität leicht zuüberprüfen.</blockquote>

Ich kritisiere sie dafür, dass sie davon ausgeht, dass die Algorithmen zwar nicht mehr a priori untersuchbar bleiben, aber ihr Ergebnis doch einfach überprüft werden könne.

Ganz so einfach ist es eben nicht. Denn mit der durch Algorithmen gegebenen Information verändert sich die eigene Welt. Jeder auf uns einströmende Information verändert uns “irgendwie”. Voraussagen verändern die Zukunft - da sie nicht “festgelegt” ist. Wenn wir aber vermeintlich wissen, wie die Zukunft werden wird/soll, können wir dagegen arbeiten, oder dafür.

Wenn wir uns aber auf Algorithmen verlassen (und das tun wir alle) und niemand weiß, ob sie überhaupt richtig sind, verlassen wir uns auf eine Zukunft, die möglicherweise gar nicht wahr ist. Wir beginnen für oder gegen eine Zukunft zu arbeiten, die es möglicherweise gar nicht gibt - weil der Algorithmus, der sie ausspuckte, falsch liegt. Damit aber verändern wir unweigerlich die “echte” Zukunft - und das vielleicht auf eine ganz andere Weise, wie wir das eigentlich wollten. Ihr Punkt “Es wird sich heraus stellen, ob sie richtig sind oder nicht” greift hier nicht weit geung. Zukunft kommt nicht aus dem Objektiven, sondern aus der Subjektivität alles Seins. Zukunft gibt es nur in der eigenen Welt - ohne die vermeintlich objektive, die uns alle umgibt.Wie man nun aber damit umgeht, weiß ich nicht. An eben dieser Stelle habe ich keine ethische Handlungsempfehlung. Ich weiß nicht, ob es “besser” ist, sich darauf zu verlassen, oder eben nicht. Und genau daran müssen wir arbeiten. An der Ethik. An der Ethik der Algorithmen, des Kontrollverlustes und des Digitalen. Und hier wieder stimme ich Kathrin Passig zu, dass ein einfaches “die Algorithmen sind böse” zu undifferenziert klingt und den eigentlichen Kern nicht trifft.

Kommentare

von: V.

Seltsam, sie schreibt im Exposé: “Was in die Liste kommt, entscheiden Algorithmen. Diese Programme wurden in letzter Zeit häufig kritisiert - doch viele machen es sich dabei zu einfach.” Dabei sind Algorithmen und Programme doch sehr unterschiedliche Dinge - wie jeder Informatik Studierende in den ersten Semestern lernt. Liegt hier nicht schon das Missverständnis?

von: 9er0

Hmm … puh. Gute Frage. Ich glaube, diese Frage müssen sich aber alle FeutonnistInnen stellen. Ich behaupte, dass vielen von ihnen den Unterschied nicht kennen. Aber das ist nicht mein Punkt den ich kritisiere (aber vielleicht ein 2. :) )

von: Daniel

In dem Zusammenhang kann ich folgende Links empfehlen. Der Autor hielt dazu vor einiger Zeit eine sehr gute Lesung in der FU Berlin.

http://www.scilogs.de/wblogs/blog/mathematik-im-alltag/allgemein/2007-12-23/ich-war-s-nicht.-der-algorithmus-war-s.

http://page.math.tu-berlin.de/~mdmv/archive/17/mdmv-17-3-148.pdf

http://page.math.tu-berlin.de/~mdmv/archive/18/mdmv-18-2-100.pdf

Schönen Abend, bis die Tage in der Uni

von: 9er0

Scilogs sollte Punkte in den Überschriften nicht in den Link übernehmen … Kein Brower erkennt, dass der Punkt am Ende des Links mit in die URL gehört. Hinweis daher: URL manuell copy-pasten … (Und auf PDFs Linken ist manchmal ja ein wenig Ansträngend :) )


Liste: Straftaten im Internet

- in: society tech

Heute gab es mal wieder eine VDS-Diskussion auf Twitter. Alle waren sich einig, die Vorratsdatenspeicherung ist doof. Bei der Definition, wo die Vorratsdatenpeicherung anfängt und wo sie aufhöhrt, war man sich dann schon nicht mehr so einig.

Seit Jahren wird Alvar Freude immer wieder ins Kreuzfeuer genommen, da er laut Kritikermeinung die “IP-VDS” fordere. (An dieser Stelle der wichtige Hinweis, dass Alvar nicht “umgefallen” sei. Er fordert die IP-Speicherung, seit dem ich ihn kenne!)

In der heutigen Diskussion ging es mal wieder um genau diese IP-Speicherung. Ob man sie braucht, oder nicht. Ob sie gut ist, oder nicht. Ich bin ein Gegner der Vorratsdatenspeicherung, einschließlich der IP-Speicherung - allerdings gibt es selbstverständlich auch gute Argumente für die systematische Speicherung von IPs.

Ich hoffe, ich tue Alvar nicht unrecht, wenn ich ihn zusammenfasse mit: “IP-Adresse sollen gespeichert werden für die Strafverfolgung - also für all das, was juristisch die “Straftat” erfüllt”. Die Twitterdiskussion kann man nachlesen. Ich finde es richtig, dass Straftaten verfolgt werden. Und ich frage mich, was an Straftaten im Internet geschehen können und möchte sie daher hier mal sammeln.

Ich bin kein Jurist und werde mit Sicherheit eine ganze Reihe vergessen. Daher bitte ich weitere Straftaten im Internet in den Kommentaren zu posten, damit ich diese hier updaten kann. Mit der Liste kann man vielleicht verdeutlichen, um was es eigentlich geht. Was für Hürden es braucht, um an die Daten heranzukommen, wenn die IP-Speicherung (wieder) aktiv ist, aber auch, wofür sie gut sein kann.

Mir fällt spontan ein mit Update (2.):

Update: Hier fehlt ein ganz essentieller Punkt, auf den mich fasel aufmerksam gemacht hat (und ich vorher vollkommen verdrengt), denn es fallen hier natürlich auch alle Morde, Vergewaltigungen, Raubmorde, schwerer Diebstahl … rein, die irgendwie mit über das Internet geplant wurden - oder wie im Mord, wo der Täter das Opfer im Internet kennengelernt hat. Da wäre die gespeicherte IP-Adresse natürlich auch seeeehr hilfreich, wenngleich wohl kaum das einzige Spur. Sollte dies doch so sein, so wäre eben diese Spur mit der IP-Adresse verloren gegangen. Das ist sehr wohl ein gutes Argument für Alvars Standpunkt, wenngleich die Frage bleibt, ob damit der “Generalverdacht” im Verhältnis steht. (Und Alvar argumentiert weiter mit der geringen Eingriffstiefe der IP-Speicherung im Vergleich zur Handyortung.)

(Sollte ich Alvar noch immer sinnentstellend zitiert haben, bitte ich ihn, doch selbst was zu bloggen, dass ich dann selbstverständlich verlinken werde ;-) ) Alvar hat selbstverständlich häufiger dazu gebloggt - daher verweise ich einfach auf sein Blog als solches, da sind mehrere Artikel dazu.

Kommentare

von: Alvar Freude

Vorneweg: Es gibt kein „Diebstahl geistigen Eigentums“. Diebstahl ist das Wegnehmen eines Gegenstandes. Das was Du meinst ist eine Urheberrechtsverletzung, kein Diebstahl oder „Klauen“ oder ähnliches!

Ansonsten und abgesehen davon, dass man jegliche Art der Kommunikation übers Internet durchführen kann, und man darüber natürlich auch Straftaten verabredet, kommuniziert, vorbereitet und sonstwas werden können, fehlt noch einiges: z.B. Kreditkartenbetrug. Also mit kopierter Kreditkartennummer einkaufen, solche Nummern anbieten bzw. damit handeln usw.

Diverse Äußerungsdelikte: Beleidigung und Verleumdung hast Du schon angesprochen; üble Nachrede gehört auch dazu. Und das folgende ist gar nicht mal so selten: es gibt Leute, über die systematisch „ich bin ne geile Sau, ruf mich an unter ……“ in diversen Foren geschrieben wird, mit Name, Anschrift, Telefonnummer. Typischer Fall von: hier gibt es ausschließlich die IP-Adresse, und das ganze fällt evtl. erst Tage oder Wochen später auf. Habe selbst schon entsprechende Fälle gehabt, wo in von mir angebotenen Diensten entsprechendes über unbeteiligte Dritte geschrieben wurde. Und glaub’ mir: das ist für die Betroffenen alles andere als schön. Im großen gab es das bei I-Share-Gossip, aber das ist ein ganz anderer Fall und hat auch mit der Diskussion nix zu tun.

Stalking fällt auch unter diese Rubrik.

Unter Äußerungsdelikte fällt auch diverser Nazikram, angefangen vom „Heil-Hitler“-Ruf bis hin zu allem was man sich vorstellen kann.

Aber auch Mordaufruf. Oder angekündigter Selbstmord. Hatte ich auch beides schon (wobei der Mordaufruf nicht wirklich ernst zu nehmen war).

„Hacker-Angriffe“, also der Versuch des unerlaubten Eindringens in ein fremde Systeme gehört auch dazu. In diversesten Varianten. z.B. fremde Mailaccounts “hacken”. Hatte auch schon einen entsprechenden Fall: Täter konnte nicht ermittelt werden, weil schon 5 Stunden nach Tat die IP weg war (hatte Nachts um 4 Uhr jemandem im NOC es Access-Providers erreicht).

DDoS-Angriffe gibt es auch noch, inkl. Erpressung und Co. Bombendrohungen.

Und so weiter und so fort. Nicht alles ist ernst gemeint und passend für das Thema, über das wir diskutieren, aber natürlich gilt: Überall fallen IP-Adressen an; mehr oder minder. In vielen Situationen können sie genutzt werden.

Tatsächlich bin ich der Ansicht, dass nicht alles was irgendwie hilfreich sein mag auch nötig ist. Eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung wäre natürlich hilfreich, aber in einem solchen Staat will keiner leben. Die Eingriffstiefe ist bei der IP-Adresse allerdings sehr gering (nahezu keine Eingriffstiefe), und der Nutzen vorhanden, also überwiegt er deutlich.

Bei Handy-Standortdaten sieht das wiederum ganz anders aus. Brauchen wir nicht zu diskutieren.

von: mars

Internetbetrug, Omatrug, Stalking, Contentnutzung… Nette Ideen aber das BVerfG sagt: VDS Daten nur bei schweren Straftaten. Punkt.

von: fasel (@fasel)

mars: das stimmt nicht. Erstens ist die IP-Zuordnung nicht “die VDS”, zweitens hat sich das BVerfG ausdrücklich zur diesem Aspekt geäußert. Bevor man ein “Punkt.” macht, schlaumachen

von: Alvar

Richtig, das BVerfG hat gesagt, dass die Zugriffshürden für “die VDS” hoch sein müssen. Bei den IP-Adressen haben sie aber andere (geringere) Anforderungen, weil auch die Eingriffstiefe viel geringer ist. Steht auch im Urteil, ganz klar und deutlich. Da steht sogar, das Internet würde ein “rechtsfreier Raum” werden, wenn man diese Zuordnung nicht hätte.

von: V.

@Alvar: Selbstmord ist keine Straftat, also auch nicht der Aufruf dazu! Diese finale Art der Sabotage des kapitalistischen Normalzustandes kann uns eigentlich auch niemensch nehmen.

BTW: Warum erwähnst du eigentlich nicht virtuellen Landfriedensbruch?

von: 9er0

Ich hab das “Mailaccount hacken” als digitalen Landfriedensbruch verstanden. Wobei ich da offline natürlich auch das Problem habe, dass wenn jemand meinen Garten Betritt und wieder verlässt (und ich ihn nicht sofort dabei erwische), kaum eine Chance habe, ihn/sie zu verfolgen.

Der Aufruf zum Selbstmord ist keine Straftat? Das würde mich aber arg wundern. Die Ankündigung zum Selbstmord ist keine Straftat, allerdings gehe ich fest davon aus, dass merkwürdige Vereine der absurdisten Art/Sekten sehr wohl dafür zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie zum massiven Suizid aufrufen.

von: 9er0

Was mir noch unklar ist: wie genau wird eine DDoS-Attacke juristisch bewertet? Eigentlich ist es ja eher eine Misschung zwischen digitaler Sitzblockade und Flashmob. Nach meinem Rechtsverständnis wäre auch hier allenfalls die Nutzung des Botnetzes strafbar, nutzen von Ressourcen, die auf Grund von Viren/Würmen/Trojanern ohne Einwilligung des Besitzers hinzukommen. Oder mache ich es mir jetzt zu leicht? Die restlichen Punkte update ich im Artikel …

von: V.

@9er0: juristische Bewertung zum Suizid siehe z.B. http://www.geistigenahrung.org/ftopic21185.html

zum “Mailaccount hacken”) Das trifft eher andere Straftatbestände. Ich meinte damit eher “Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern,” (§ 125 StGB) in die digitale Welt (Rants, Flamewars u.s.w.) übertragen. Und natürlich auch Alvars persönliche Erfahrungen (ODEM, S21).


Wie ein Mensch zum Nazi wird

- in: ideas politics society

Im Kraftfuttermischwerk habe ich den Arte-Film “This is England - Ende der Kindheit” gefunden. Außdrückliche Filmempfehlung, um zu verstehen, wie Menschen zu Nazis werden. Dank depublizieren ist der nicht mehr online, aber es gibt noch den Trailer:

Wer es mal schafft, den Film zu sehen, schaut ihn euch an!

Ich bin auf dem Land in Sachsen-Anhalt aufgewachsen und war eine Zeit lang in einer ganz ähnlichen Szene. Einige behaupteten Punks zu sein, andere behaupteten Nazis zu sein. Ein Teil davon findet Ausländer scheiße - und alle grölten zu den “Bösen Onkelz”. Einige, weil sie ihre Nazi-Parolen gut fanden, andere behaupteten, sie machten sich mit den Parolen über Nazis lustig und sie selbst seien sicher keine Rassisten.

Rassisten sind wir aber alle, weil wir nach Hautfarbe unterscheiden. So lange wir die Hautfarbe überhaupt als Erkennungskriterium nehmen, sortieren wir die Menschen in ethische Gruppen ein und sind damit Rassisten. Andere Menschen mit dem Qausi-Schimpfwort “Rassist” zu betiteln halte ich übrigens auch für wenig sinnvoll. Es geht nicht darum, ob wir dies sind, sondern wie wir damit umgehen.

“Ich bin kein Nazi (Wahlweise auch Rassist), aber was die $Volk machen …” geht eben gar nicht. Es geht bei der Diskriminierung nicht darum, was impliziert wird, sondern darum, was bei dem Empfänger ankommt.

Der kleine Junge Shaun hat nicht verstanden, was da passiert - aber er hatte auch keine Alternative. Nazis rekrutieren sich zumeist aus gesellschaftlich wenig angesehenen Schichten. Sie geben den Außenseitern eine Heimat, wie es kaum eine andere Organisation schafft. Sie nehmen sie mit auf und setzen dann abartige Gedanken in den Kopf, die mit der Zeit reifen und menschenverachtende Ausmaße annimmt.


Kontrollverlust ist kein Urteil, sondern eine Aufgabe

- in: ideas society tech

Der Urvater des Kontrollverlusts, @mspro, hat sein Bild des Kontrollverlustes mal in der c’t beschrieben. An diesem Bild, dass man nicht mehr Herr seiner Daten ist, möchte ich anknüpfen.

Für die Spackeria ist es ein Anlass über eine Gesellschaft zu spekulieren, die ohne Privatsphäre besser wäre, was ich (unter Berücksichtigung der Informationellen Selbstbestimmung) auch gut finde. Nun aber soll es um den Kontrollverlust selbst gehen - und dem Umgang mit ihm. Viel zu häufig wird er als Urteil erkannt und erklärt, man könne daran nichts ändern. Diese Haltung klingt für mich nach einer Kapitulation vor den eigenen Aufgaben. Wir - als “Netzgemeinde” (diese Gemeinde als solche gibt es nicht) - können doch nicht diejenigen sein, die von dem Rest der Welt verlangen, dass sie vor dem Internet kapitulieren müssen. “Wir” sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir mit dem Internet umgehen können, ohne alle Kritiker sofort zu verscheuchen. Wir wollen das Internet - dann sollten wir uns auch Gedanken darüber machen, wie wir es am verträglichsten mit der Gesellschaft kombinieren können.

Der Kontrollverlust ist kein Urteil, sondern eine Aufgabe, wie wir mit den neuen Möglichkeiten umgehen wollen. Wie sehr wir einander achten und Rücksicht auf einander nehmen. Wenn wir wollen, dass die Mehrheitsgesellschaft im Internet angstfrei bewegt, dann müssen wir ihr Schutzräume bieten. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob es wirklich in Ordnung ist, alles sofort zu veröffentlichen. Vielleicht sollten wir wieder über eine Moral nachdenken - eine Moral, die uns Werkzeuge in die Hand gibt, zu entscheiden, was offen im Web stehen muss, und was auch auf nicht-öffentlichen Mailinglisten oder Foren gepostet werden soll. Wir sollten uns überlegen, wie wichtig die Anonymität ist, um gesellschaftliche Prozesse lostreten zu können. In der Anonymität kann man sich selbst testen, ausprobieren, spielen, um zu erfahren, ob etwas auch für das öffentliche Leben taugt. Anonymität ist wichtig, um erste Erfahrungen zu sammeln, um in einer öffentlichen Debatte schon zu wissen, über was man überhaupt spricht. Sie ist keine Dauerlösung, aber ein dauerhafter Schutzraum.

Unsere Aufgabe ist es, die Gedanken zu entwickeln, die für unser Gemeinwohl wichtig sind, in dem die ganze Gesellschaft in der erweiterten Realität des Internets angekommen ist. Und wir brauchen Werkzeuge für die Nachzügler, damit sie uns nicht unterlegen sind. Datenschutz ist ein altes Werkzeug für Minderheiten. Sollte der Datenschutz im Kontrollverlust unter gehen, so brauchen wir ein neues Werkzeug, damit Minderheiten sich schützen können. Dieses Werkzeug sehe ich in dem Schutzraum der Anonymität und Pseudonymität, sowie in einer Moral, nach der wir entscheiden, was veröffentlicht wird. Die Moral aber, muss noch entwickelt werden, auch wenn es gute Ansätze wie die Hackerethik schon gibt. Das, liebe Spackeria, ist die eigentliche Aufgabe.

Kommentare

von: akismet-244aafc3142729d19e925450ae579907

Schuldigung, aber die Hackerethik als “guten Ansatz” zu sehen entbehrt nicht einer gewissen Komik - du weisst genauso gut wie ich, dass das keine Ethik ist.

von: 9er0

Warum genau sollte die Hackerethik denn keine Ethik sein? Ja, sie ist sehr einfach und in weiten Teilen könnte sie deutlich breiter untermauert sein - aber eine Handlungsgrundlage gibt sie - und das ist, was eine Ethik tun soll. Um aber über die Handlungsgrundlage weiter zu entwickeln, fordere ich ja gerade auf, an einer umfassenderen Moral zu arbeiten. Warum sollten wir was wie tun - oder auch nicht. Gerne können wir auch noch in die Diskussion gehen, ob es eine Moral sein sollte, oder nicht eigentlich die gute Sitte, nach der wir streben - und möglicherweise müssen wir den Ansatz auch aus den vernunftgeleiteten Sitten herleiten, statt aus der medial geprägten Moral - aber genau das sollten wir mal tun. So ganz grundsätzliche Gedanken “zu Ende denken” (soweit man einen Gedanken “zu Ende” denken kann). Schade, dass die Frist für den 28C3 inzwischen durch ist - das hätte ein spannender Workshop werden können. Aber vielleicht wird’s ja zur Re:publica was. Fände ich jedenfalls sehr spannend.


im offenen Geist liegen Datenschutz und post-privacy dicht zusammen

- in: society science

Auf der OpenMind, einer von Piraten organisierten Konferenz gibt es die Zeit, die im Alltag so häufig fehlt: mal nachzudenken - über das, was wir so machen und wo es hin führt. Und, wo es hinführen soll mit dem Internet. Viele “Vertreter” der Spackeria habe ich dort getroffen - und nur wenige Datenschützer. Nun waren zeitglich die Datenspuren vom CCC in Dresden, sodass es sich die Netzgemeinde möglicherweise ein bisschen aufgeteilt hat in “Spackos” und “Datenschützer”. Nun war ich als “Datenschützer” auf der OpenMind und irgendwie gezwungen den Spackos zu zuhören. Das war gut.

Im “Menscheln”-Barcamp-Slot ging es darum Menschlichkeit zu zeigen. Es fühlte sich etwas nach Selbsthilfegruppe an “wir reden über unsere Probleme und stellen fest, dass ganz viele Menschen Probleme haben”. Das war es, was einen Denkprozess in mir ausgelöst hat. Schon seit Jahren spricht @plomlompom davon, dass die Gesellschaft besser werden würde, wenn alle alles wissen würden. Er hält es für eine Utopie, ich hielt für eine Dystopie.

In der Metadiskussion ging es um das Erzählen von Problemen an sich. Problemen erzählen hilft. Das Problem wird in Worte gepackt - und dadurch kann man daran arbeiten. Es lässt sich “greifen”. Den Zuhörenden hilft es, einen Einblick in andere Personen zu bekommen - und auch Probleme von sich selbst zu erzählen um sie packen und lösen zu können. Dafür braucht es ein gewisses Vertrauen - und um eben dieses geht es.

Sich zu “öffnen” ist ein gewisser Prozess, den man häufig nur in einer vertrauten Runde angehen kann. Manchmal nicht einmal da - und spätestens dann wird ein Psychologe hilfreich, der das Handwerk gelernt hat, Menschen erzählen zu lassen.

Aus der Sicht der Allgemeinheit können Zuhörende auch etwas davon haben, dass sie zuhören. Sie können die Gesellschaft als das fassen, was sie ist: krank. Depression zum Beispiel ist längst zur Volkskrankheit geworden - aber niemand spricht drüber. Dieses Schweigen ist es, dass jedem vorschreibt, nicht “krank” zu sein. Keine Schwäche zeigen, denn andere haben ja auch keine “Schwächen”.

Fraglich aber ist, ob diese “Schwächen” überhaupt Schwächen sind, wenn wir es schaffen, zu ihnen zu stehen. In dem Moment des Öffnens verschwindet die angreifbare Stelle. Wenn allgemein bekannt ist, dass der Herr Nachbar gerne rote Kleider trägt, verliert es sein Drohmoment. So lange nur der beste Freund davon weiß, ist es eine potentielle Drohung, dass der Chef das mitbekommen könnte - was viele Menschen wiederum beschäftigt und Teil der Gesellschaftskrankheit wird.

Datenschützer erklären häufig vereinfacht: “schreibe keine eigenen Schwächen ins Internet, denn das ist gefährlich”. Dieser Ansatz ist es, der von der Spackeria angegriffen wird, denn man selbst sollte doch selbst entscheiden können, was man veröffentlicht.

Dreh- und Angelpunkt bleibt dabei die informationelle Selbstbestimmung, denn es ist durchaus eine gewisse “Stärke” von Nöten, um auf seine “Schwächen” angesprochen zu werden und entsprechend darauf reagieren zu können. Wer diese Stärke nicht hat - oder keinen positiven Nutzen darin sieht, Dinge über sich zu veröffentlichen (und wenn es nur das Angst nehmen von anderen Menschen, sich auch zu öffnen) sollten dies auch nicht tun müssen. Dies wiederum leitet sich aus der Handlungsfreiheit des Einzelnen ab. Und Freiheit ist gut.

Damit liegen Datenschutz und Spackeria gar nicht so weit entfernt. Und immerhin hat mir auch der @mspro erklärt, er hätte Geheimnisse, sodass auch klar sein dürfte, dass dieses “alle müssen alle Daten veröffentlichen” eher ein advocatus diaboli ist, um überhaupt einen Diskussionsraum zu eröffnen - ganz nach dem Namen der Konferenz: Open (your) Mind!

Kommentare

von: foobar

…aber mal ehrlich: sich vor anderen personen zu “öffnen” und über probleme zu reden und solche dinge hat doch nichts mit dem post-privacy-gedanken zu tun. das sind doch zwei verschiedene dinge.

ich zeige meine schwächen, wo es angemessen ist. aber ich stelle meine intimsphäre nicht öffentlich aus. und ich will auch bestimmte dinge von leuten, die ich nicht oder kaum kenne, nicht wissen. wenn jeder alles veröffentlicht, wird alles bedeutungslos.

post-privacy kann auch nur funktionieren, wenn jeder alles preisgeben *muss*, denn nur dann kann sichergestellt werden, dass nicht einige vielleicht doch sich einen vorteil verschaffen, indem sie etwas “verheimlichen”.

letztlich stellt die post-privacy-philosophie doch vor allem eine pseudotiefgängige rationalisierung für dummen umgang mit persönlichen daten dar. facebook & co. freuen sich.

von: 9er0

Ganz die Frage, was genau “post-privacy” ist. Eine einheitliche Definition gibt es nicht … und jeder nutzt ihn, wie er/sie es gerade will. Das halte ich für ein Grundproblem in der Diskussion um post-privacy und die Spackeria. “Nach-Privates” (oder in der “Zeit nach der Privatsphäre”) trifft es eben nicht ganz.

von: laprintemps

Ok, und wieso weißt du, was genau Post-privacy ist. Für mich ist es ekaxt das, was Gero beschreibt. Und schön, dass du deine “Schwächen” kennst und darüber reden kannst. Viele Menschen können es eben nicht, auf Grund von Zwängen und Diskriminierung. Das ist ja der Grund, wieso gewisse “Probleme” in Private abgeschoben werden.

Die Ideen hinter Post-Privacy gehen WEIT über Facebook hinaus. Schade, dass es selbst jetzt nicht anerkannt wird, wo jemand persönlich davon berichtet.

von: 9er0

Ich würde die post-privacy-Debatte von der Facebook-Debatte sogar loslösen. Zumindest finde ich Facebook doof (auch aus Datenschutzgründen), will aber trotzdem, dass Menschen sich mehr öffnen. Nur sollten die Menschen dabei auch wissen, dass sie sich öffnen. Und man sollte ihnen nicht einreden, “dass das Internet böse ist”, sondern aufklären, was da wie passiert. Und: man sollte animieren, dass Menschen weiter miteinander kommunizieren, denn Kommunikation ist es, dass die Menschheit sich fortentwickeln lässt :)

von: asdasdffasd

wenn ihr wollt, dass menschen sich mehr öffnen und mehr miteinander reden, dann *sagt das einfach*. sagt nicht “post-privacy”, sondern sagt “wir wollen, dass menschen sich mehr öffnen und mehr miteinander reden”. wo liegt das problem?

von: laprintemps

Weil das eben nur ein Teilaspekt ist. Es geht ja um die Systematik dahinter.

von: asdasdffasd

dann tut nicht so als wäre es alles. warum werden die persönlichen, privaten dinge, die auf der veranstaltung erzählt worden sind, nicht nach außen getragen und sämtlich im internet veröffentlicht?

weil die dinge persönlich und privat sind. weil die gesellschaft keine selbsthilfegruppe ist.

von: #om11 Nachtrag: Utopie und Schutzraum « H I E R

[…] Wieder eine grandiose Session. Wieder eine Gruppentherapie bei der jeder sichtlich von der Offenheit des Anderen profitierte. Sogar Gero, FoeBud-gestählter Datenschützer, statte der Diskurs mit einer neuen Grundsympathie für die Ideen der Spackeria aus. […]

von: Nico

Sicherlich hat jeder seine Gebrechen, aber die Krankenversicherung wird dennoch selektieren wenn die gesundheitlichen Gegebenheiten aller Patienten offen liegen. Auch Arbeitgeber würden darauf achten welche unterschiedlichen psychischen und körperlichen Voraussetzungen die Bewerber mitbringen wenn sie in deren Krankenakten einsehen dürften, und so lange nicht alle Menschen das gleiche Einkommen beziehen wird es Neider geben - gerade wenn alle Kontoauszüge offen gelegt sind. Diskriminierung von Minderheiten wird man durch deren völlige Entblößung nicht verhindern können. Natürlich hat jeder Mensch auch Schwächen, aber nicht alle Menschen haben die gleichen Schwächen. Deshalb würde es auch in einer post-privacy-Gesellschaft immer zu Selektionen und Benachteiligungen kommen. “Schwächen” sind aber nur ein Aspekt. Auch die Herkunft oder Religionszugehörigkeit wird nicht auf breitere Akzeptanz stoßen wenn sie nur transparenter vorgeführt wird. Ganz im Gegenteil: Wenn die Religionszugehörigkeit der Menschen jederzeit und von jedem abgerufen werden könnte, würde eine Diskriminierung von Muslimen in Europa (z.B. im Reiesverkehr) definitiv zunehmen. Und Ausländerfeindlichkeit entsteht nicht etwa weil sich zu wenige Ausländer als solche zu erkennen geben würden.

von: 9er0

Da gebe ich dir vollkommen recht: es gibt Neider - und das ist ein Problem. Aber es geht (mir) eben auch nicht darum, dass jeder alle Daten öffentlich machen muss (ich bin auch noch immer gegen VDS und eGK…), sondern, dass wir keine Angst haben zu kommunizieren - und von der perfekten Gesellschaft abkommen. Wir sind alle nicht perfekt (der Philosoph würde fragen, was Perfektion ist und wie ein Mensch sie überhaupt erreichen könnte). So lange wir aber nur super ausgewähltes veröffentlichen, sorgt es dafür, dass wir alle voneinander denken, dass die anderen perfekt sind - und daran zersetzt sich die Gesellschaft. Da drunter entsteht der Zwang auch (mindestens) perfekt zu sein, sodass wir alle daran zugrunde gehen. Das ist es, was zu den unglaublichen Suizidraten in Japan führt (wo man noch viel weniger kommuniziert und noch mehr darauf aus ist, perfekt zu sein). Mit anderen Worten: Ich bin für mehr kommunikation, aber gegen Datenbanken. Datenbanken kann man algorithmisch auslesen - aber kein Algorithmus ist umfassend genug, die ganze Kommunikation auszuwerten ;-)

von: asdasdffasd

nur eins dazu:

“Datenbanken kann man algorithmisch auslesen – aber kein Algorithmus ist umfassend genug, die ganze Kommunikation auszuwerten ;)”

da irrst du dich. das ist ein ähnlicher trugschluss wie “es gibt so viele daten über uns, die kann doch eh keiner mehr auswerten”. die algorithmen matchen und verknüpfen besser, als du dir das wahrscheinlich vorstellen kannst, das sag ich dir als jemand der eine anwendung für ordnung und durchsuchung von ein paar zig mio. verknüpfungen entwickelt hat. und die benötigte rechenkapazität gibt es heute bei aldi.

von: 9er0

Ähm - jain. Klar kann man in Texten Schlagworte erkennen lassen und auswerten. Und die Schlagwörter können in diversesten Kategorien und Gewichtungen zueinander stehen - aber der Algorithmus ist nicht all umfassend. Ja, Facebook hat einen “happiness”-Anlysator, der deine Beiträge und Mails durchleuchtet und ja, auch Tweets können darauf untersucht werden, dass Twitterer Abends am glücklichsten sind, aber der exakte Inhalt lässt sich nicht herausfinden, denn Sprache lebt. Sie verändert sich und wird angepasst. Wie wird welcher Begriff verwendet? Was genau soll damit ausgedrückt werden? Begriffe sind nicht fix und lassen sich daher von Algorithmen nicht absolut analysieren. Das ist widerum auch ein sehr großes Problem an “einfacher” analyse der Kommunikation - und der Grund, warum Facebook davon immer weiter weg geht und man doch seinen Beziehungsstatus, seine Arbeit, seinen Wohnort, etc. fest angeben. Dieses Problem ist es auch, warum Algorithmen immer wieder falsch liegen - sie können nicht interpretieren. Und daher gehören sie (meines Erachtens) auch verboten - was aber nichts mit der Kommunikation an und für sich zu tun hat.

von: micha

ein interessanter beitrag, wie ich finde. ich bin nicht in der lage, mir eine abschließende meinung dazu zu bilden und ich kann auch die bedenken zur mächtigkeit zukünftiger robots nachvollziehen, aber drei punkte haben mich im beitrag besonders berührt:

1.) die auswirkung dessen, probleme in sprache zu fassen und damit eine entwicklung im umgang mit problemen und deren lösung anzustoßen, zumindest aber eine damit einhergehende blickwinkelerweiterung. ich bin mir nur nicht sicher, ob und inwieweit das gesprochene wort innerhalb einer runde von menschen (real life) mit dem geschriebenen wort z.b. auf einer mailingliste, in einem forum oder einem “social” network gleiche auswirkungen hat.

2.) die öffnung des sehens auf zustände unserer gesellschaft um zu erkennen und anzuerkennen, was da ist und was vor sich geht. die erschreckende verbreitung von depressionen, süchten, armut, vereinsamungen und ausblendungen (etc.) ist etwas, was mich an auszüge aus einem beitrag von oskar negt erinnert. herr negt spricht in einem vortrag aus 1981 (!) von einer “erosionskrise”, siehe seite 5ff. hier: http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/images/Die_zwei_realit%C3%A4ten_und_die_funktion_des_demonstrationsrechts_-_oskar_negt_1981.pdf

vor allem aber:

3.) die auch aufgrund der datenschutzdiskussion zum teil bestehende angst von menschen, sich zu öffnen und damit (zumindest im einzelfall) erst die möglichkeit des internets zu eröffnen, freiheit im austausch von gedanken, ideen, anregungen und gefühlen zu leben. ob das unbedingt zur zersetzung der gesellschaft führt - keine ahnung. aber bedenklich ist das schon, finde ich jedenfalls.

wie geschrieben: ich habe keinen festen standpunkt zu alledem und die datenschutztechnischen bedenken sind - in aller nüchternheit und sachlichkeit - bei mir sehr sehr groß. aber effekte, die einzelne menschen ihre freiheiten beschränken sind genauso bedenklich.

auf jeden fall: danke für den guten beitrag, gero! :)


Dem Terrorismus die Macht nehmen

- in: ideas politics society

Ich finde es erschreckend, wie in den Massenmedien die Angst vor dem Terror geschürt wird. Es ist absurd, was für Schreckens-Szenarien aufgebaut werden.

Begeistert bin ich hingegen davon, dass es doch auch Leute gibt, die bewusst dagegen argumentieren. (Wie z.B. Florian auf Netzpolitk.org)

Leider stelle ich aber häufig fest, dass die Argumentation nur auf Statistiken beruht - und mit den Statistiken lässt sich ein möglicherweise geschehener Anschlag auch nicht wegdiskutieren.

Viel wichtiger finde ich, klar zu machen, dass es Anschläge gibt. Es gibt Terroristen und es kann auch in Deutschland Anschläge geben. Und Möglicherweise werden dann auch Menschen sterben. Es ist sogar extrem wichtig, dass wir uns das klarmachen, dass Terroristen Verbrecher sind. Und sie wollen ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen. Sie wollen Angst und Schrecke in der Bevölkerung hinterlassen, um eigene Ziele durchzusetzen. Sie wollen die Bevölkerung verängstigen.

Daher sollten wir - als Gesellschaft - dem Terrorismus die Stirn bieten und keine Angst haben. Auch wenn es tatsächlich zu einem Anschlag kommen sollte, ist es absolut höchste priorität den Terroristen nicht zu zuspielen und Angst zu haben, sondern sich dem widersetzen und am gesellschafltichen Leben weiter teil zu nehmen - oder vlt sogar gerade deshalb.

Um den Terrorismus zu schwächen, dürfen wir ihm keinen Raum in der Gesellschaft geben. Wir dürfen ihm nicht eine einzige Zeile in der Tageszeitung geben. Keinen Blogartikel. Nichts.

Das ist die einzige Wirkungsvolle Strategie gegen den Terrorimus. Ihn trotz möglicher Gefahren und möglichweise auch trotz Anschlägen zu ignorieren. Wir - als Gesellschaft, als Staat - müssen uns einfach drüber hinweg setzen und dürfen uns nicht verunsichern lassen. Und wenn es Anschläge gibt und dabei Menschen sterben -  dann sterben eben Menschen, aber wir dürfen den Terroristen trotzdem nicht den Gefallen tun und sie dafür beachten.

Das mag jetzt extrem klingen, ist aber die einzige Möglichkeit, dem Terrorismus die Macht zu nehmen.

Kommentare:

von: thilo

Der Trick ist: Über etwas anderes reden bzw. anders darüber reden. Nicht “Nieder mit dem König!” rufen, sondern “Es liebe die Demokratie!”.

Um den großen Heinz von Foerster zu zitieren:

“Dazu fällt mir ein Satz von Ludwig Wittgenstein ein: Wenn man über eine Proposition „p” und ihre Verneinung „non p” spricht, heißt es bei Wittgenstein, so spricht man von demselben. Darf ich hier eine kleine Analogie anführen? Revolutionäre, die einen König stürzen wollen, machen häufig den bedauerlichen Fehler, dass sie laut und deutlich schreien: Nieder mit dem König! Das ist natürlich kostenlose Propaganda für den König, der sich bei seinen Gegnern eigentlich bedanken sollte: „Danke, dass ihr mich so oft erwähnt habt, und dass ihr nicht aufhört, meinen Namen zu rufen!” Wenn ich eine Person, eine Idee oder ein Ideal laut und deutlich negiere, ist die endgültige Trennung noch nicht geglückt. Das verneinende Phänomen kommt wieder vor und wird ex negativo erneuert in Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.”

Auf “Terrorismus” übertragen hieße das z.B. konsequent nicht von “Terroristen” zu sprechen sondern von “Verbrechern/Straftätern” oder eine Sprache zu etablieren, die Terrorismus nicht als zu verhindernden Angriff auf unseren Staat sieht, sondern als notwendigen Kollateralschaden/Unfall…

von: thilo

(Und beim Vertipper “liebe” statt “lebe” darf, wer will, natürlich gerne an Freud denken.)

von: 9er0

Hmm … interessanter Punkt.

Aber funktioniert das? Zum Königtum gibt es die Alternative der Demokratie. Was ist die Alternative zum Terrorismus? In meinem letzten Blogpost habe ich ein paar Gedanken aufgeschrieben - was genau denn Terroristen wollen und warum wir es nicht schaffen, uns mit ihnen zu sprechen.

Die Wortwahl nur auf “Verbrecher/Straftäter” zu verändern halte ich für nicht zielführend. Das bringt uns ja nicht weiter. Dadurch gibt es noch immer Anschläge und es wird noch immer Angst verbreitet. Das ist also nicht die Alternative. Wir werden die islamistischen Fundamentalisten nicht einfach bei Seite schieben. Wir können ihnen nur die Macht nehmen, indem wir sie eben nicht für voll nehmen. indem wir sie ignorieren und aus unseren Medien verbannen. Dann können sie machen was sie wollen, aber wir werden sie nicht beachten. Der Krieg in der Gummizelle.

Die notwendigen Kollateralschäden (sie sind auch nicht notwendig), müssen erwähnt werden. Ja. Das habe ich aber auch geschrieben. Wir müssen uns bewusst werden, dass es Terroristen gibt und es auch Anschläge geben kann. Aber, wir sollten uns darüber stellen. Wir sollten unser Leben in vollen Zügen genießen und eben nicht auf den Terror, den Terroristen verbreiten, reagieren. Wir sollten es ignorieren.

von: thilo

Natürlich verschwinden nicht die Menschen, die Bomben explodieren lassen, nur weil man sie plötzlich anders nennt.

Und es geht mir hier auch nicht um eine Kommunikation mit diesen Menschen - die kriegen ja im Zweifel gar nicht mit, was wir reden und wie wir sprechen.

Dennoch: Terroristen gibt es ja nur, solange es Menschen gibt, die sie Terroristen nennen. Wenn wir solche Menschen und Ereignisse anders nennen, sind sie für uns auch etwas anderes (mit anderen Bezügen, mit denen ein anderer Begriff assoziiert ist.) Und, das nur als Beispiel, die Angst vor Straftätern und Unfällen scheint mir doch eine andere zu sein, als die Angst vor Terroristen und Anschlägen. Wir müssen ja nicht zwangsläufig von einem “Krieg gegen den Terror” spreechen (und all die Assoziationen, die “Krieg” beinhaltet erzeugen).

Wenn wir anfangen wollen, die Sache anders zu betrachten, müssen wir auch eine andere Sprache verwenden.

von: 9er0

@ thilo (mehr als 2 Antworten scheint Wordpress mir nicht zu gewährleisten) …

Vom Umbennen werden die Terroristen aber auch nicht besser. Das klingt eher nach http://neusprech.org/ … Davon wird das Problem ja nicht behoben, sondern nur verlagert.

Nennen wir das Kind doch beim Namen und stellen uns dem. Denn wie wir wohl alle wissen gab es seit 27 Jahren keinen Terroranschlag mit Todesfolge mehr. So sollten wir als Gesellschaft einfach entsprechend aufpassen und uns bewusst mit Medien auseinandersetzen, sodass die Gesellschaft sich vom “Terrorismus” nicht mehr verängstigen lässt. Wer genau auch immer die Ängst schürrt.

von: Maria Seifert

“Der Terror (lat. terror „Schrecken“) ist die systematische und oftmals willkürlich erscheinende Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt, um Menschen gefügig zu machen. Das Ausüben von Terror zur Erreichung politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Ziele nennt man Terrorismus.”

Wikipedia hat gesprochen.

Also ran an die Terroristen! Nicht mehr über sie schreiben nicht mehr über sie sprechen - und wenn dann bitte doch das Kind beim Namen nennen: “Angela und ihre Kumpanen/Helfershelfer der fundamentalistischen Konservativen” -> und ja, sie arbeiten tatsächlich mit dem Verfassungsschutz zusammen.

von: Maria Seifert

hmm… Obwohl ich Straftäter doch schon besser finde, da sie sich an der Verfassung tatsächlich sträflich vergangen haben. Oder doch Gewalttäter, weil sie die Gewaltentrennung versuchen aufzubrechen… schwierige Frage- zugegeben ;)

von: 9er0

Können wir uns auf “Terroristen” für die Kloppies, die den Gottesstaat haben wollen, einigen - und Arschlöcher für die, die unserer Verfassung an den Leib wollen?!?

:D

von: Maria Seifert

Hmm… nein.

In China sind Terroristen die Menschen die Pressefreiheit wollen. In Russland seit neuestem auch die Tschetschenen. In der Türkei werden die Kurden seit jeher Terroristen genannt und in Burma sind eh alle Terroristen die nicht zur herrschenden Klasse gehören.

…das ist ein politischer Kampfbegriff. Die Realität ist differenzierter. Es gibt kein schwarz und weiß, sondern nachts eh nur graue Katzen.


„Öffentlichkeit“- auf dem Netzkongress der Grünen

- in: politics science society

Vor einer Woche habe ich über Hannah Arendt und den unterschied zwischen „Öffentlichkeit“ und mangelnder Privatsphäre gebloggt.

Dazu gibt es nun ein Update. Mit mspro habe ich mich zu einer kleinen Session auf dem Barcamp beim Netzpolitischen Kongress der Grünen verabredet.

In der Session (dabei waren neben @mspro, auch @rka, @jensbest, @elicee, @herrurbach, @gedankenstuecke) haben wir kurz über Hannah Arendt selbst gesprochen und ihre Unterscheidung zwischen dem „Erscheinungsraum“ und der „Öffentlichkeit“. So ist der Erscheinungsraum nur das Zusammentreffen von Menschen. Wenn zu dem Zusammentreffen der Menschen aber noch ein politischer Wille kommt, entsteht Macht. Diese Macht sorgt dafür, dass aus dem „Erscheinungsraum“ eine „Öffentlichkeit“ wird.

Die Feminismusbewegung sprach dem „Privaten“ ab, nicht politisch zu sein. Also auch jede private Mitteilung sei auch (in einem gewissen Grade) politisch.

Im Privaten, so behauptet es ein Teil der Feminismusbewegung, werden Frauen unterdrückt und deshalb müssen diese Privatsphäre aufgehoben werden. Wie genau ich dazu stehe, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.

Diese These hat auch mspro eingenommen und sieht eben in jedem privaten Gespräch auch einen politischen Aspekt – und damit die Ausweitung des „Öffentlichen“ auf den gesamten „Erscheinungsraum“.

Das führt nun dazu, dass die Privatsphäre immer weiter zurück gedrängt wird und sich schließlich auflösen wird. Und schon heute haben wir eine Gesellschaft, die Profil verlangt. Es ist gut, auch Fehler zu machen und diese müssen nicht mehr verheimlicht werden. Die Gesellschaft gewöhne sich daran, dass jeder Fehler macht und die inzwischen auch nicht mehr verheimlicht werden können. Zumal man ja zu den Fehlern stehen soll, denn damit gibt man diese zu und kann dafür nicht mehr angegriffen werden.

ie Technik schreite voran und ermögliche immer neue Möglichkeiten der Informationsverarbeitung und -zusammenführung. Jeder Kampf dagegen sei nutzlos, da Internet sich nicht an Staatengrenzen hält und damit ein Nationalstaat alleine nichts dagegen bewirken kann.

Das wiederum eine Regelung in der UN getroffen werde, ist auch recht unwahrscheinlich. So könnten wir auch gleich den Kampf aufgeben und uns dem „CTRL-Verlust“ hingeben.

Dazu kommt, so mspro, dass selbst wenn es in allen Staaten der Welt gleich geregelt wäre, so wird es noch immer technische Möglichkeiten geben, Schadsoftware zu bauen (etwa das „Gaydar“, dass Facebook-Accounts auf ihre Freunde überprüft und darüber raus bekommen will, ob der User schwul sei oder nicht. Diese Programm existiert und hat eine sehr hohe Treffsicherheit.).

Ich beschreibe das ganze nun als „Schere“ zwischen der Technischen Möglichkeit und der Gesellschaftlichen Akzeptanz. Mspro behauptet, dass die Gesellschaft sich wandelt und es irgendwann einfach egal ist, was ich wann wie wo gemacht habe.

Der andere Scherbalken wäre, dass die Technik so datenschutzfreundlich wird, dass die Gesellschaft nicht alles zu wissen bekommt.

Für möglich halte ich aber auch, dass die Schere zerbrechen wird und nur die, die selbstbewusst genug sind, die Daten zu veröffentlichen und dazu zu stehen. Dann würde sich die Gesellschaft teilen. Ein Teil, der damit umgehen kann und ein Teil, der das nicht kann.

So jedenfalls habe ich gerade versucht meine Gedanken zu ordnen. Mit ein wenig mehr Zeit zum darüber nachdenken, werde ich mich wohl nochmal dazu äußern.

Kommentare

von: Andreas

Mal unabhängig vom Inhalt: Die Menschen haben doch Namen, ich find es persönlich sehr nervig, wenn Leute beim Twitter-Account personifiziert werden. Face2Face fast noch schlimmer (wenn die Leute es so wollen ists natürlich jedem frei gestellt, aber irgendwie find ichs selbst trotzdem doof).

von: 9er0

Hi Andreas! Ja, die Menschen haben Namen. Aber mspro ist nunmal wesentlich bekannter unter “mspro” als unter Michael Seemann. Von den anderen weiß ich teils nichtmal die Namen, sondern eben nur die Twitteraccounts. Und ich glaube, es ist auch in Ordnung so. Finde ich jedenfalls.

von: Andreas

Ja klar, die Welt wird nicht unter gehen davon ;) Gut, da würde ich dann ggf schreiben, besser bekannt als mspro, oder sowas. Ist ja auch nur meine kleine Macke vielleicht ;)

von: Jens

Hallo 9er0! Wenn ich mich nicht tauesche - ich muesste es bei Hannah mal wieder genauer nachlesen - dann sollte das Private nie oeffentlich werden, weil das nur in totalitären Systemen geschieht. Denjenigen, die die Oeffentlichkeit suchen ist es egal (Berlusconi z.B.) aber nicht denjenigen die im Privaten bleiben wollen - oder halt anonym in der Oeffentlichkeit publizieren.

von: Jens

Hannah bewunderte ja John Adams. Adams sagte sinngemäß, dass es nichts erstrebenswerteres gaebe, als in der Oeffentlichkeit “bewundert” zu werden. Das mag so sein, aber heute ist es ja auch existentiell fuer einge, da sie von den Publikationen leben oder mal spaeter Karriere machen wollen. die Frage ist also, warum sucht jemand DIE Oeffentlichkeit? Wobei es DIE Oeffentlichkeit wohl gar nicht mehr gibt, sondern viele Sub-Oeffentlichkeiten.

von: 9er0

Nach Arendt ist Öffentlichkeit das Zusammentreffen von Menschen - UND das Zustandekommen von Macht. Macht entsteht, wenn Menschen sich gemeinsam ein politisches Ziel setzen.

In der Feminismusbewegung gibt/gab es Forderungen, dass jede Privatsphäre aufgehoben wird, weil es Raum für die Unterdrückung der Frauen gibt. Daraus entstand dann die Idee, dass jede Tätigkeit (wie der Umgang von Mann und Frau miteinander) eine politische ist. Das greift auch mspro auf und argumentiert damit, dass es keine “rein privaten Tätigkeiten” gibt.

Und zu meist handelt es sich garnicht um die “Öffentlichkeit”, sondern um einen Erscheinungsraum. Denn wenn Menschen zusammenkommen - ohne politisches Ziel - handelt es sich nicht um einen “Öffentlichen Raum” sondern nur um einen “Erscheinungsraum”. Das jedenfalls sagt Arendt.

von: Gedankenstücke

Ein kurzes Fazit vom Netzpolitischen Kongress…

Die Bundestagsfraktion der Grünen hatte für die letzten beiden Tage zu ihrem Kongress zu Netzpolitik in den Räumen des Paul-Löbe-Haus geladen und zusammen mit dem bezaubernden Herrn Urbach habe ich mich auch auf den Weg dahin gemacht. Und eigentlich ka…

von: Jens

Damit (Daraus entstand dann die Idee, dass jede Tätigkeit … eine politische ist. Das greift auch mspro auf und argumentiert damit, dass es keine “rein privaten Tätigkeiten” gibt.) bin ich einverstanden. Trotzdem gibt es eine privaten “Raum” der geschützt sein muss vor der Öffentlichkeit.

Ich habe gestern Abend noch mal den 7. Abschnitt der Vita Activa gelesen. Mich irritiert der Begriff “Erscheinungsraum”. Den kenne ich bei ihr so nicht. Sie spricht dort nur vom Raum des politischen oder halt den privaten Bereich. Hast du da einen Hinweis für mich?

von: 9er0

@ Jens:

Im 5. Kapitel “Das Handeln” in Vita Activa gibt es den Paragrafen 28. Dieser nennt sich “Der Erscheinungsraum und das Phänomen der Macht”.

In der Piper-Ausgabe beginnt der Paragraf auf Seite 251.

Ich gebe dir vollkommen recht, dass es einen gewissen Bereich geben muss, der “Privat” ist. Wenn wir aber jede Tätigkeit als eine politische sehen, weiß ich nicht, wo grundsätzlich die Linie zu ziehen. Wo ist nun Öffentlichkei und wo Privatsphäre? Mir fehlt da eine Definition. Wobei ich mir auch nicht sicher bin, ob ich tatsächlich jede Tätigkeit als eine politische Ansehe. Alice Schwarzer meint zwar auch in das Privatleben einer jeden Frau hineinzueilen um ihr zu erklären, wie sich diese zu verhalten hat … aber ich bin zu wenig in der Gender-Debatte integriert, als dass ich da nun ein Urteil drüber fällen möchte.

von: Jens

Danke, habe ich nachgelesen. Ist mir nach 4 Jahren entfallen, weil der Begriff mir bei Arendt wohl nicht so wichtig war.

Hier noch ein link zu unserer Diskussion:

http://laprintemps.blog.com/2010/11/24/arendt-und-privatssphare/

_von: Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter Herr Urbach bloggt_

[…] hat, „Öffentlichkeit“ zu definieren und die Grenze zum Privaten zu ziehen. Darüber hat @9er0 schon gebloggt und ich habe es leider nicht vorher geschafft, meine Gedanken dazu zu Papier zu bringen. Schon vor […]


Politik. Das Spiel der Strategie.

- in: politics personal society

So formuliere ich, was ich in vier Tagen Bundestag gelernt habe.

Seit einigen Jahren gibt es das Planspiel „Jugend und Parlament“. Dieses Planspiel hat zum Ziel, Jugendlichen die politische Arbeit näher zu bringen.

Vor ein paar Jahren wollte ich schon einmal teilnehmen, habe mich aber zu spät gemeldet. Die Jahre drauf, wurde die Möglichkeit in meinem Wahlkreis nicht öffentlich gemacht, doch dieses Jahr hat es geklappt.

So begab es sich, dass ich in den Bundestag durfte. Aber nicht einfach nur in den Bundestag – Nein, auch in den Plenarsaal. Und in die Fraktions- und Ausschussräume, Mensen, Büros und allem, wo man im Bundestag nur hinkommen will.

Aber: Ich durfte nicht nur in all den Räumlichkeiten platz nehmen und mich umschauen – nein, ich durfte auch Politik machen. In Landesgruppe, Fraktionen und Ausschüssen organisiert. Nur hat leider all das, was wir gemacht haben, auf die reale Politik keinen Einfluss.

Am Samstag, dem 5.6. bin ich als Gero Nagel, der Mensch, der ich im wahren Leben bin, durch das Paul-Löbe-Haus in den Bundestag gekommen.

Dort musste ich meinen „Nazis Raus“ -Aufkleber von meiner Tasche lösen, denn „mit diesem politischen Symbol darf man nicht in den Bundestag“. So habe ich dann meinen Aufkleber entfernt und durfte nun in die Gesetzesfabrik des deutschen Volkes.

Drinnen wurde mir dann meine Biografie gegeben. Den Namen – Ijon Tichy – durfte ich mir noch selbst aussuchen, der Rest wurde vorgeschrieben. Mit 55 Jahren, verwitwet, 4 Kinder, bei der ältesten Tochter in Wesel lebend, in der CVP-Fraktion (Christliche Volkspartei) hätte es kaum schlimmer kommen können. Ok, ich war Lehrer und nicht aus dem bayrischen Landesverband – das war dann doch schon fast wieder erträglich.

Die Landesgruppen trafen sich und gingen zusammen in den Plenarsaal, wo die Vizepräsidentin ein Grußwort sprach und ein paar Formalitäten erklärte.

Danach gab es eine Reichstags-Gebäude-Führung, Abendessen und das erste Landesgruppentreffen. Das treffen hielten wir noch mit unseren richtigen Identitäten ab. Jeder stellte seinen Nachbarn vor und durfte noch einen Zettel ausfüllen, was er sich von dem Planspiel zu lernen erhoffte.

Anschließend wurden wir dann entlassen und fuhren zum Hostel nach Friedrichshain. Der Abend klang ruhig aus.

Den nächsten morgen sind wir schon um 6.30 aufgestanden, denn ab 6.45 gab es Frühstück.

Um 8.30 waren wir im Bundestag und um 9 trafen wir uns erneut in den Landesgruppen. Nun war ich Abgeordneter Ijon Tichy. Die Identität „Gero Nagel“ hatte ich mit dem Mantel abgegeben, wie manch Abgeordneter sein Gewissen mit dem Mantel abgibt.

In der Landesgruppe haben sich alle Abgeordnete vorgestellt und nach einer Pause wurde über ein Fraktionsvorstandsmitglied abgestimmt. Aus jeder Landesgruppe musste es ein Fraktionsvorstandsmitglied geben.

Ich wurde vorgeschlagen, doch fehlten mir 2 Stimmen, sodass eine 60-Jährige Physikerin zum Landesgruppenvorsitzenden gewählt wurde. Ein Schriftführer wurde ebenfalls gewählt.

Um 11 gab es dann die große Fraktionssitzung, wo nun die vier Landesgruppen zusammen kamen und 2 Stunden nach einem Fraktionsvorsitzenden suchten. Zur Auswahl standen die vier Landesgruppenvorsitzenden. Nach einer Pause und anschließender Stichwahl wurde Gerd Nehr aus der Landesgruppe Bayern gewählt.

Schließlich wurden wir in Arbeitsgruppen aufgeteilt, um uns mit den vier vorliegenden Anträgen zu beschäftigen.

Ich war in der Arbeitsgruppe Bau, Verkehr und Stadtentwicklung, die als beratenden Gruppe dem Thema „Vollendung der Deutsche Einheit“ zugeordnet war.

Nach einer weiteren Pause berieten alle drei Arbeitsgruppen zu diesem Thema in dem Fraktionssaal der FDP in einem der vier Türme des Reichstagsgebäudes.

Dort wurde uns auch Material gegeben, mit dem wir arbeiten sollten – schlecht nur, dass da nichts für Bau, Verkehr und Stadtentwicklung dabei war. Unsere Aufgabe war es vor allem über ein Konzept nachzudenken, wie wir die Einheit schließlich am besten vollenden konnten. Im Zusammenhang mit dem Solidarpakt 2, der 2019 ausläuft, haben wir einstimmig abgestimmt, dass der zukünftige Solidarpakt nicht nach Ost- und West unterteilt wird. Es soll einen Solidarpakt für ganz Deutschland geben. Überall, wo geholfen werden muss, soll der neue Solidarpakt greifen.

Der weiteren haben wir einige Punkte gesetzt, die besonders wichtig sind: öffentlicher Nahverkehr, Breitbandausbau und Anreizschaffung für Unternehmen zur Investition.

Anschließend haben wir dieses Konzept den anderen beiden Arbeitsgruppen vorgestellt und darüber diskutiert. Es gab kleinere Meinungsverschiedenheiten, aber es blieb doch Konsens-nah.

Nach Abstimmung über die Ergebnisse gab es eine weitere Fraktionssitzung, wo jedes der vier bearbeiteten Themen vorgestellt wurde und zur Abstimmung kam. Zum Thema Alkoholverbot für Jugendliche gab es eine sehr langwierige Diskussion, doch schließlich hat sich die entsprechende Gruppe durchgesetzt und eine positive Abstimmung erzwungen.

Nach dem Abendessen (gegen 9) war dann für den Tag Schluss.

Montag begann nach dem Frühstück im Plenarsaal. Um 9 verlas die Vizepräsidentin die vier vorliegenden Anträge, nachdem die Formalitäten abgearbeitet waren (wie dem Abgeordneten Ijon Tichy zum 56. Geburtstag zu gratulieren).

In einer weiteren Fraktionssitzung wurde das weitere Vorgehen erklärt und es ging in die Ausschusssitzungen. Hier saßen die Arbeitsgruppen des Vortages aus allen Fraktionen zusammen und erklärten den jeweiligen Standpunkt der Fraktion.

Nun trafen erstmals die „politischen Gegner“ direkt aufeinander. Teilweise diskutierten wir sachlich, teilweise ging es aber auch nur darum, den Gegner zu diffamieren und anzugreifen. So gingen wir natürlich auf keinen Punkt der „Mauerbauer“ ein. Mit den Ökos haben wir allerdings eine Allianz probiert. Unsere Standpunkte waren nicht so weit entfernt und er wäre schön gewesen, wenn diese mit uns im Plenarsaal gemeinsam stimmen würden.

Die Punkte der Liberalen haben wir bestmöglich eingebaut, denn immerhin koalieren wir miteinander.

Letzten Endes war es jedoch ein sehr klares Ergebnis: Die Regierung gegen die Opposition. Die Regierung hatte mehr Stimmen und hat damit die Opposition überstimmt. Die 2-stündige Diskussion vorher war eher sinnlos. Es gab nur geringe Ergänzungen durch den Koalitionspartner

Wir waren quasi fertig mit der Diskussion, als noch eine Stadtentwicklungsprofessorin zu Wort kam und unsere Fragen beantwortet hat. Dies wurde aber leider nicht als Grundlage genommen den Antrag auszuarbeiten, sondern nur noch als Nagelfeile um die eigenen Argumente unterlegen zu können.

Nach dem Mittagessen wurde eine Stadtrundfahrt angeboten, die ich allerdings nicht wahr nahm. Stattdessen habe ich mir die verschiedenen Gebäude des Bundestags sehr genau angeguckt. Ein FDP-Abgeordneter ließ eine anderen JuP und mich einen Blick in den schönsten Raum des Bundestages schauen. Der Fraktionsvorstandsraum der FDP liegt in einem Wintergarten auf dem Jakob-Kaiser-Haus an der Ecke zum Reichstagsgebäude. Man hat einen gigantischen Blick von etwas unterhalb der Oberkante des Reichstagsgebäudes auf die Kuppel und direkt daneben die Spree – ein Traum von Bildkomposition. Und ich machte kein Bild(!).

Um vier gab es eine weitere Fraktionssitzung und es wurde erneut über die Anträge diskutiert und abgestimmt. Der Alkoholverbotsantrag wurde kurz vorher nochmal neu geschrieben, sodass es nur ein handgeschriebenes Exemplar auf dem Overheadprojektor gab.

Dies wiederum war das gefundene Fressen der fraktionsinternen Kritiker. Es wurde hart diskutiert und auch in der Abstimmung gab es viele Abweichler, aber es hat gereicht. Es gab noch eindringliche Aufforderungen, dass man sich in der Plenarabstimmung doch zumindest enthalten möge, wenn man sich nicht dafür entscheiden könne. Anderes würde aussehen, als ob unsere Fraktion keinerlei zusammenhalte.

Die anderen Anträge gingen gut durch.

Am Abend gab es Essen im Kasino des Kaiser-Jakob-Hauses. Hier waren auch tatsächliche Abgeordnete (wie z.B. Müntefering) anwesend, die es genossen Fotos mit JuPies zu machen.

Bald darauf ging ich ins Bett.

Dienstag, der letzte Tag wurde mit der 2. und 3. Lesung begonnen. Es wurde das Prozedere erklärt und dann debattierten wir zu jedem der 4 Themen eine gute halbe Stunde. debattieren war in dem Fall dass ein Redner am Rednerpult stand, und seine (auf 2-3 Minuten gekürzte) Rede hielt und Zwischenfragen der anderen Fraktionen kamen, oder die bekannten Zwischenrufe. Abgesehen von der kurzen Redezeit war dies vier hitzige Debatten. In 3 Fällen hat sich die Regierung durchgesetzt, in dem 4. Fall hätten wir eine 2/3 Mehrheit gebraucht, die wir nicht bekommen haben, aber auch dies war eigentlich vorgesehen, denn wir wollten den Antrag auch nicht, konnten uns öffentlich aber auch nicht gegen mehr direkter Demokratie stellen. Jedenfalls wollten wir dies nicht.

Wolfgang Thierse hat zwischenzeitlich sehr rigoros zum Protokoll dirigiert. Wir waren im Zeitverzug und Herr Thierse hat dann keine Zwischenfragen mehr erlaubt, damit wir fertig werden. Auch hat er sehr strickt darauf bestanden, dass jeder nach seiner Redezeit auch zum Ende kam. Ein Abgeordneter der LRP (Liberale ReformPartei) durfte nicht einmal den letzten Satz beenden.

Um kurz nach 12 (wir waren fast pünktlich) gab es dann ein Snack und im Anschluss eine sehr beeindruckende Gesprächsrunde mit den Fraktionsvorsitzenden aller im Parlament vertretenen Parteien (CDU, SPD, FDP, Grüne, Linke). So kamen Herr Gysi, Frau Künast, Frau Homburger, Herr Steinmeier und für die CDU „nur“ der Stellvertreter Herr Kretschmar.

Herr Deppendorf (ARD Hauptstadtstudio) hat (versucht) zu moderieren. Leider kann er es einfach nicht, sondern hat selbst Fragen gestellt, die aber sich aber allersamt nur schmeichelnd um das Fraktionszusammenleben drehten. Schließlich kam der Einwurf, dass es für uns eine Fragerunde sein sollte und damit kam mehr Bewegung in die Sache. Schließlich ist ein Hinweis auf das (am Vortag beschlossene) Elterngeld gefallen, worauf Künast und Gysi nahezu ausgerastet sind und auf Frau Homburger und Herrn Kretschmar eingedroschen haben, dass hab ich noch nicht erlebt. Das war eine „noch nicht dagewesene Frechheit“. „Unglaublich“. Der Politikeralltag.

Es ging auch hier nicht um Problemlösungen, sondern um strategische Deformierung des „politischen Gegners“.

So war also nicht nur unsere 4 Tage nahezu reine Strategie, sondern auch im richtigen Politiker-Alltag läuft dies genau so. Das war erschreckend.

An tatsächlichen Lösungen haben wir NUR in den Arbeitsgruppen (2 Stunden) gearbeitet. Dann gab es hier und da noch kleine Ausbesserungen, aber nur noch sehr sehr wenig inhaltliche Arbeit.

Ich hatte den Abgeordneten „Ijon Tichy“ hinter mir gelassen und war wieder ich selbst. Gero.

Und ich war beeindruckt, all diese Erfahrungen gemacht zu haben, aber auch traurig, dass so wenig konstruktiv gearbeitet wird. Im Parlament, da wo unser aller Probleme gelöst werden sollen.

Kommentare

von: Ionette Tychy

welcome to the horrors of politics & economics….

wenn man gerne redet, kann man politik machen. wenn man aber gerne auch an dem besprochenem arbeitet, kann man sich engagieren - in der sogenannten apo (alles was nicht durch parteienfinanzierung verhunzt wird). da macht man wenigstens auch was außer machtfragen anderer menschen zu lösen….

gruß ans ende der welt,

fräulein gelb-grün hinter den ohren

von: 9er0

Ja, da magst du Recht haben - nur muss man leider auch im Parlament sitzen UND da auch noch eine Mehrheit haben um Gesetze zu machen. Das wiederum können APOs nicht. Leider.

Da kann man allenfalls wieder zum Verfassungsgericht ziehen und all das, was eben nicht Verfassungskonform ist, verbieten lassen. Damit kann man das ein oder andere Übel abwenden, aber man kann es auch nicht zum positiven wenden. Das kann man nur, wenn man sich auch auf das Machtgeschacherre einlässt.

Gruß zurück an die “Ionette” :)

von: Luise

Hallo Gero,

dein Bericht klingt sehr interessant. Hier noch einen Tipp, den ich damals von Rena erhalten habe und mir eindringlich im Gedächtnis geblieben ist:

Düstere Aussichten Vor der Afghanistan-Abstimmung verrät der SPD-Mann Marco Bülow, was Bundestagsmitglieder wirklich zu sagen haben: fast nichts.

http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/3658