Auf der OpenMind, einer von Piraten organisierten Konferenz gibt es die Zeit, die im Alltag so häufig fehlt: mal nachzudenken - über das, was wir so machen und wo es hin führt. Und, wo es hinführen soll mit dem Internet. Viele “Vertreter” der Spackeria habe ich dort getroffen - und nur wenige Datenschützer. Nun waren zeitglich die Datenspuren vom CCC in Dresden, sodass es sich die Netzgemeinde möglicherweise ein bisschen aufgeteilt hat in “Spackos” und “Datenschützer”. Nun war ich als “Datenschützer” auf der OpenMind und irgendwie gezwungen den Spackos zu zuhören. Das war gut.
Im “Menscheln”-Barcamp-Slot ging es darum Menschlichkeit zu zeigen. Es fühlte sich etwas nach Selbsthilfegruppe an “wir reden über unsere Probleme und stellen fest, dass ganz viele Menschen Probleme haben”. Das war es, was einen Denkprozess in mir ausgelöst hat. Schon seit Jahren spricht @plomlompom davon, dass die Gesellschaft besser werden würde, wenn alle alles wissen würden. Er hält es für eine Utopie, ich hielt für eine Dystopie.
In der Metadiskussion ging es um das Erzählen von Problemen an sich. Problemen erzählen hilft. Das Problem wird in Worte gepackt - und dadurch kann man daran arbeiten. Es lässt sich “greifen”. Den Zuhörenden hilft es, einen Einblick in andere Personen zu bekommen - und auch Probleme von sich selbst zu erzählen um sie packen und lösen zu können. Dafür braucht es ein gewisses Vertrauen - und um eben dieses geht es.
Sich zu “öffnen” ist ein gewisser Prozess, den man häufig nur in einer vertrauten Runde angehen kann. Manchmal nicht einmal da - und spätestens dann wird ein Psychologe hilfreich, der das Handwerk gelernt hat, Menschen erzählen zu lassen.
Aus der Sicht der Allgemeinheit können Zuhörende auch etwas davon haben, dass sie zuhören. Sie können die Gesellschaft als das fassen, was sie ist: krank. Depression zum Beispiel ist längst zur Volkskrankheit geworden - aber niemand spricht drüber. Dieses Schweigen ist es, dass jedem vorschreibt, nicht “krank” zu sein. Keine Schwäche zeigen, denn andere haben ja auch keine “Schwächen”.
Fraglich aber ist, ob diese “Schwächen” überhaupt Schwächen sind, wenn wir es schaffen, zu ihnen zu stehen. In dem Moment des Öffnens verschwindet die angreifbare Stelle. Wenn allgemein bekannt ist, dass der Herr Nachbar gerne rote Kleider trägt, verliert es sein Drohmoment. So lange nur der beste Freund davon weiß, ist es eine potentielle Drohung, dass der Chef das mitbekommen könnte - was viele Menschen wiederum beschäftigt und Teil der Gesellschaftskrankheit wird.
Datenschützer erklären häufig vereinfacht: “schreibe keine eigenen Schwächen ins Internet, denn das ist gefährlich”. Dieser Ansatz ist es, der von der Spackeria angegriffen wird, denn man selbst sollte doch selbst entscheiden können, was man veröffentlicht.
Dreh- und Angelpunkt bleibt dabei die informationelle Selbstbestimmung, denn es ist durchaus eine gewisse “Stärke” von Nöten, um auf seine “Schwächen” angesprochen zu werden und entsprechend darauf reagieren zu können. Wer diese Stärke nicht hat - oder keinen positiven Nutzen darin sieht, Dinge über sich zu veröffentlichen (und wenn es nur das Angst nehmen von anderen Menschen, sich auch zu öffnen) sollten dies auch nicht tun müssen. Dies wiederum leitet sich aus der Handlungsfreiheit des Einzelnen ab. Und Freiheit ist gut.
Damit liegen Datenschutz und Spackeria gar nicht so weit entfernt. Und immerhin hat mir auch der @mspro erklärt, er hätte Geheimnisse, sodass auch klar sein dürfte, dass dieses “alle müssen alle Daten veröffentlichen” eher ein advocatus diaboli ist, um überhaupt einen Diskussionsraum zu eröffnen - ganz nach dem Namen der Konferenz: Open (your) Mind!
Kommentare
von: foobar
…aber mal ehrlich: sich vor anderen personen zu “öffnen” und über probleme zu reden und solche dinge hat doch nichts mit dem post-privacy-gedanken zu tun. das sind doch zwei verschiedene dinge.
ich zeige meine schwächen, wo es angemessen ist. aber ich stelle meine intimsphäre nicht öffentlich aus. und ich will auch bestimmte dinge von leuten, die ich nicht oder kaum kenne, nicht wissen. wenn jeder alles veröffentlicht, wird alles bedeutungslos.
post-privacy kann auch nur funktionieren, wenn jeder alles preisgeben *muss*, denn nur dann kann sichergestellt werden, dass nicht einige vielleicht doch sich einen vorteil verschaffen, indem sie etwas “verheimlichen”.
letztlich stellt die post-privacy-philosophie doch vor allem eine pseudotiefgängige rationalisierung für dummen umgang mit persönlichen daten dar. facebook & co. freuen sich.
von: 9er0
Ganz die Frage, was genau “post-privacy” ist. Eine einheitliche Definition gibt es nicht … und jeder nutzt ihn, wie er/sie es gerade will. Das halte ich für ein Grundproblem in der Diskussion um post-privacy und die Spackeria. “Nach-Privates” (oder in der “Zeit nach der Privatsphäre”) trifft es eben nicht ganz.
von: laprintemps
Ok, und wieso weißt du, was genau Post-privacy ist. Für mich ist es ekaxt das, was Gero beschreibt. Und schön, dass du deine “Schwächen” kennst und darüber reden kannst. Viele Menschen können es eben nicht, auf Grund von Zwängen und Diskriminierung. Das ist ja der Grund, wieso gewisse “Probleme” in Private abgeschoben werden.
Die Ideen hinter Post-Privacy gehen WEIT über Facebook hinaus. Schade, dass es selbst jetzt nicht anerkannt wird, wo jemand persönlich davon berichtet.
von: 9er0
Ich würde die post-privacy-Debatte von der Facebook-Debatte sogar loslösen. Zumindest finde ich Facebook doof (auch aus Datenschutzgründen), will aber trotzdem, dass Menschen sich mehr öffnen. Nur sollten die Menschen dabei auch wissen, dass sie sich öffnen. Und man sollte ihnen nicht einreden, “dass das Internet böse ist”, sondern aufklären, was da wie passiert. Und: man sollte animieren, dass Menschen weiter miteinander kommunizieren, denn Kommunikation ist es, dass die Menschheit sich fortentwickeln lässt :)
von: asdasdffasd
wenn ihr wollt, dass menschen sich mehr öffnen und mehr miteinander reden, dann *sagt das einfach*. sagt nicht “post-privacy”, sondern sagt “wir wollen, dass menschen sich mehr öffnen und mehr miteinander reden”. wo liegt das problem?
von: laprintemps
Weil das eben nur ein Teilaspekt ist. Es geht ja um die Systematik dahinter.
von: asdasdffasd
dann tut nicht so als wäre es alles. warum werden die persönlichen, privaten dinge, die auf der veranstaltung erzählt worden sind, nicht nach außen getragen und sämtlich im internet veröffentlicht?
weil die dinge persönlich und privat sind. weil die gesellschaft keine selbsthilfegruppe ist.
von: #om11 Nachtrag: Utopie und Schutzraum « H I E R
[…] Wieder eine grandiose Session. Wieder eine Gruppentherapie bei der jeder sichtlich von der Offenheit des Anderen profitierte. Sogar Gero, FoeBud-gestählter Datenschützer, statte der Diskurs mit einer neuen Grundsympathie für die Ideen der Spackeria aus. […]
von: Nico
Sicherlich hat jeder seine Gebrechen, aber die Krankenversicherung wird dennoch selektieren wenn die gesundheitlichen Gegebenheiten aller Patienten offen liegen. Auch Arbeitgeber würden darauf achten welche unterschiedlichen psychischen und körperlichen Voraussetzungen die Bewerber mitbringen wenn sie in deren Krankenakten einsehen dürften, und so lange nicht alle Menschen das gleiche Einkommen beziehen wird es Neider geben - gerade wenn alle Kontoauszüge offen gelegt sind. Diskriminierung von Minderheiten wird man durch deren völlige Entblößung nicht verhindern können. Natürlich hat jeder Mensch auch Schwächen, aber nicht alle Menschen haben die gleichen Schwächen. Deshalb würde es auch in einer post-privacy-Gesellschaft immer zu Selektionen und Benachteiligungen kommen. “Schwächen” sind aber nur ein Aspekt. Auch die Herkunft oder Religionszugehörigkeit wird nicht auf breitere Akzeptanz stoßen wenn sie nur transparenter vorgeführt wird. Ganz im Gegenteil: Wenn die Religionszugehörigkeit der Menschen jederzeit und von jedem abgerufen werden könnte, würde eine Diskriminierung von Muslimen in Europa (z.B. im Reiesverkehr) definitiv zunehmen. Und Ausländerfeindlichkeit entsteht nicht etwa weil sich zu wenige Ausländer als solche zu erkennen geben würden.
von: 9er0
Da gebe ich dir vollkommen recht: es gibt Neider - und das ist ein Problem. Aber es geht (mir) eben auch nicht darum, dass jeder alle Daten öffentlich machen muss (ich bin auch noch immer gegen VDS und eGK…), sondern, dass wir keine Angst haben zu kommunizieren - und von der perfekten Gesellschaft abkommen. Wir sind alle nicht perfekt (der Philosoph würde fragen, was Perfektion ist und wie ein Mensch sie überhaupt erreichen könnte). So lange wir aber nur super ausgewähltes veröffentlichen, sorgt es dafür, dass wir alle voneinander denken, dass die anderen perfekt sind - und daran zersetzt sich die Gesellschaft. Da drunter entsteht der Zwang auch (mindestens) perfekt zu sein, sodass wir alle daran zugrunde gehen. Das ist es, was zu den unglaublichen Suizidraten in Japan führt (wo man noch viel weniger kommuniziert und noch mehr darauf aus ist, perfekt zu sein). Mit anderen Worten: Ich bin für mehr kommunikation, aber gegen Datenbanken. Datenbanken kann man algorithmisch auslesen - aber kein Algorithmus ist umfassend genug, die ganze Kommunikation auszuwerten ;-)
von: asdasdffasd
nur eins dazu:
“Datenbanken kann man algorithmisch auslesen – aber kein Algorithmus ist umfassend genug, die ganze Kommunikation auszuwerten ;)”
da irrst du dich. das ist ein ähnlicher trugschluss wie “es gibt so viele daten über uns, die kann doch eh keiner mehr auswerten”. die algorithmen matchen und verknüpfen besser, als du dir das wahrscheinlich vorstellen kannst, das sag ich dir als jemand der eine anwendung für ordnung und durchsuchung von ein paar zig mio. verknüpfungen entwickelt hat. und die benötigte rechenkapazität gibt es heute bei aldi.
- j.
von: 9er0
Ähm - jain. Klar kann man in Texten Schlagworte erkennen lassen und auswerten. Und die Schlagwörter können in diversesten Kategorien und Gewichtungen zueinander stehen - aber der Algorithmus ist nicht all umfassend. Ja, Facebook hat einen “happiness”-Anlysator, der deine Beiträge und Mails durchleuchtet und ja, auch Tweets können darauf untersucht werden, dass Twitterer Abends am glücklichsten sind, aber der exakte Inhalt lässt sich nicht herausfinden, denn Sprache lebt. Sie verändert sich und wird angepasst. Wie wird welcher Begriff verwendet? Was genau soll damit ausgedrückt werden? Begriffe sind nicht fix und lassen sich daher von Algorithmen nicht absolut analysieren. Das ist widerum auch ein sehr großes Problem an “einfacher” analyse der Kommunikation - und der Grund, warum Facebook davon immer weiter weg geht und man doch seinen Beziehungsstatus, seine Arbeit, seinen Wohnort, etc. fest angeben. Dieses Problem ist es auch, warum Algorithmen immer wieder falsch liegen - sie können nicht interpretieren. Und daher gehören sie (meines Erachtens) auch verboten - was aber nichts mit der Kommunikation an und für sich zu tun hat.
von: micha
ein interessanter beitrag, wie ich finde. ich bin nicht in der lage, mir eine abschließende meinung dazu zu bilden und ich kann auch die bedenken zur mächtigkeit zukünftiger robots nachvollziehen, aber drei punkte haben mich im beitrag besonders berührt:
1.) die auswirkung dessen, probleme in sprache zu fassen und damit eine entwicklung im umgang mit problemen und deren lösung anzustoßen, zumindest aber eine damit einhergehende blickwinkelerweiterung. ich bin mir nur nicht sicher, ob und inwieweit das gesprochene wort innerhalb einer runde von menschen (real life) mit dem geschriebenen wort z.b. auf einer mailingliste, in einem forum oder einem “social” network gleiche auswirkungen hat.
2.) die öffnung des sehens auf zustände unserer gesellschaft um zu erkennen und anzuerkennen, was da ist und was vor sich geht. die erschreckende verbreitung von depressionen, süchten, armut, vereinsamungen und ausblendungen (etc.) ist etwas, was mich an auszüge aus einem beitrag von oskar negt erinnert. herr negt spricht in einem vortrag aus 1981 (!) von einer “erosionskrise”, siehe seite 5ff. hier: http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/images/Die_zwei_realit%C3%A4ten_und_die_funktion_des_demonstrationsrechts_-_oskar_negt_1981.pdf
vor allem aber:
3.) die auch aufgrund der datenschutzdiskussion zum teil bestehende angst von menschen, sich zu öffnen und damit (zumindest im einzelfall) erst die möglichkeit des internets zu eröffnen, freiheit im austausch von gedanken, ideen, anregungen und gefühlen zu leben. ob das unbedingt zur zersetzung der gesellschaft führt - keine ahnung. aber bedenklich ist das schon, finde ich jedenfalls.
wie geschrieben: ich habe keinen festen standpunkt zu alledem und die datenschutztechnischen bedenken sind - in aller nüchternheit und sachlichkeit - bei mir sehr sehr groß. aber effekte, die einzelne menschen ihre freiheiten beschränken sind genauso bedenklich.
auf jeden fall: danke für den guten beitrag, gero! :)