Vor ein paar Tagen habe ich diesen Artikel “Together Alone - The Epedemic of Gay Loneliness” gelesen. Er ist komplex, vielschichtig, sehr lang (Lesezeit ~30 min) und sollte mit Vorsicht gelesen werden. Er ist voller Trigger (Suizid, Depression, Angstzustände, Einsamkeit, Verzweiflung, Drogenmissbrauch, …). Harter Stoff, aber auch die beste Analyse die ich je gelesen habe, warum Selbstmordrate und psychische Probleme bei schwulen Männern signifikant höher ist als bei heterosexuellen Männern.
In dem Artikel wird herausgearbeitet, dass diese Probleme nicht nur mit Homophobie und Mobbing erklärt werden können - denn selbst Männer die nie homophob angegriffen oder gemobbt wurden, immer ein unterstützendes Netzwerk hatten keine direkte Diskrimierung zu spüren bekamen, haben trotzdem überproportional viele psychische Probleme.
Es ist leicht, hier in fatalistischen Biologismus zu verfallen “Schwule sind halt anders und sie müssen damit leben”. In diesem Ton endet der Artikel auch. Aber je länger ich darüber nachdenke, je stärker bin ich davon überzeugt, dass der Artikel einen wichtigen Aspekt vernachlässigt. Ich versuche hier eine Argumentation zu dem Problem, die weitgehend auf meiner eigenen Lebenserfahrung und Gesprächen mit Freunden beruht und keine Allgemeingültigkeit beansprucht. Ich würde mich sehr über Rückmeldungen hierzu freuen, denn vielleicht ist meine Wahrnehmung zu wenig objektiv zu diesem Thema.
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Signifikant höhere Raten an psychischen Problemen und Suizid bedeutet nicht, dass alle schwulen Männer dieses Problem haben. Ich glaube, es ist hilfreich, die Gruppe “schwule Männer” weiter zu unterteilen in “Männer, die gerne Sex mit Männern haben” und “Männer, die eine Beziehung mit Männern wollen”.
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Ich behaupte die im Artikel beschriebenen Probleme treffen vor allem auf die Gruppe “Männer, die eine Beziehung mit Männern wollen” zu. Männer, die Sex mit Männern, aber keine Beziehung wollen, scheinen mir weitgehend nicht betroffen zu sein. Ich glaube auch, dass die Gruppe “Männer, die Sex mit Männern wollen” die größere der beiden Gruppen ist.
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Es ist als Mann sehr leicht Sex mit einem anderen Mann zu haben. Dating Apps sind in der schwulen Community noch viel verbreiteter, als unter Heteros. Bars und Clubs für Schwule sind häufig auf Sex ausgerichtet. Viele von ihnen haben Darkrooms um sehr einfach und unkompliziert Sex haben zu können.
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Männer, die eine Beziehung wollen, haben kaum Möglichkeiten, explizit nach einer Beziehung zu suchen. Die meisten Angebote für schwule Männer sind auf Sex ausgerichtet und kaum ein Mann will nicht auch Sex. (Mir scheint dies ein tendenziell fundamentaler Unterschied zwischen Männern und Frauen zu sein: Männer wollen mehr, unkomplizierten Sex als Frauen (dafür spricht u.a. die deutlich höhere Rate an sexuellen Übergriffen durch Männer als durch Frauen. Warum das so ist oder wo dieser Unterschied herkommt, lässt sich nicht in diesem Blogpost klären.))
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Männer, die eine Beziehung wollen, haben die Wahl zwischen klassisch schwulen Angeboten (Bars, Dating Apps) die auf Sex ausgerichtet sind und Angeboten, die nicht auf schwulen Sex ausgerichtet sind und vor allem (auch) heterosexuelles Publikum ansprechen. Homosexuelle sind in der Minderheit. Egal wie akzeptiert diese Minderheit je sein wird, bleibt es dennoch immer merkwürdig in einer heterosexuell geprägten Gesellschaft mit Menschen des gleichen Geschlechts zu flirten. So lange ich mir nicht sicher bin, ob ein anderer Mann auch Interesse an Männern hat, werde ich diesen nicht darauf ansprechen. Die Chance einen Korb zu bekommen ist extrem hoch. Und so lange Homosexualität nicht vollständig akzeptiert ist, besteht auch immer die Gefahr nicht nur einen Korb, sondern auch einer homophoben Anfeindung ausgesetzt zu sein.
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Die Frage ist also, wo Männer, die eine Beziehung wollen, diese auch finden können. Es gibt den unwahrscheinlichen Fall, dass sich aus einem Sexpartner eine Beziehung entwickelt. Das ist mir bisher ein einziges Mal passiert, dabei hatte ich in meinem Leben schon sehr viele Sexpartner. (Viele Männer, die Sex mit Männern wollen, wollen gar keine Beziehung) Es gibt den etwas wahrscheinlicheren Fall, dass im Laufe des Lebens mit andere nicht heterosexuelle Männer begegnen, woraus sich eine Beziehung entwickeln kann. Das ist mir ein paar Mal passiert, aber die Chance sich mit einem anderen nicht-heterosexuellen Mann zu befreunden ist nicht all zu groß. Die Mehrheit der Männer ist nun mal heterosexuell - oder will zumindest keine homosexuelle Beziehung.
Mir scheint es so zu sein, dass die Gruppe an Männern, die eine Beziehung mit Männern will, zwischen dem Zahnrad “Sex mit Männern” und dem Zahnrad “heterosexuell geprägte Gesellschaft” zermahlen wird - und genau das führt zu den signifikant größeren psychischen Problemen, die der Gruppe “schwule Männer” zugeordnet wird, obwohl diese nur eine Untergruppe davon betreffen: nämlich die, die überhaupt eine Beziehung wollen. Ich habe keine Lösung für dieses Problem, aber ich glaube, dass es hilft dieses Problem zu präzisieren, um überhaupt eine Lösung finden zu können.
Kommentare
von: zweifeln
Ja, Berlin ist die Konzentration an Menschen, die keine Beziehung wollen, sehr hoch - deutlicher höher als in allen anderen Orten, die ich kenne (und zumindest ein Gefühl dafür entwickeln konnten, wie viele Menschen überhaupt eine Beziehung wollen.) Und klar, LGBT-Menschen ziehen deutlich eher in die Stadt um dem tendenziell eher homo-/transphoben Landleben zu entkommen. Aber ob sich das tatsächlich normalisiert, weiß ich nicht. Wie in dem verlinkten Artikel beschrieben, sehe ich durchaus viele der Probleme aus der Szene selbst kommen. Mir fehlt, warum (und wohin) sich das “normalisieren” sollte. Für viele schwulen Männer existiert dieses Problem gar nicht. (Das ist jedenfalls meine Wahrnehmung.)
Was ich viel eher sehe ist, dass auch hetero Beziehungen zunehmend kurzlebiger sind und dass (hetero) Beziehungen insgesamt nicht mehr so oft gewünscht werden. Vielleicht hat Online-Dating insgesamt dazu geführt, dass jetzt einfach alle unkompliziert Sex haben können und Beziehungen insgesamt eine Seltenheit werden. (Ich bin am überlegen über veränderte Beziehungen durch Online-Dating meine Bachelorarbeit zu schreiben. Aber das nur am Rande.)
von: @CK_eins
Mal Anmerkungen zum Eindruck von mehr oder weniger Außen: Mir scheint, dass es keine grundsätzliche schwule Gruppeneigenart zu sein scheint, dass keine Beziehungen gewünscht sind. Die Beobachtung/Erfahrung kann ich sehr wohl nachvollziehen. Allerdings scheint es da eine Art regionale Gewichtung zu geben. Was du beschreibst, springt in Berlin regelrecht ins Auge. In Cottbus hingegen, wo ich aufgrund von Freundschaften schon vor langer Zeit in beiden Welten unterwegs war, schien es mir zumindest überall um die mehr oder weniger gleichen Liebeleien und Beziehungskisten zu gehen. Im Grunde war es ziemlich egal, ob man da nun auf der nächsten Dorf-Disse oder im lokalen Queer-Lokal war. Die Trennung kam dann meiner Wahrnehmung nach schon eher durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zustande. In einer Hetero-Partnerschaft bestand das Ziel auf dem Land ja schon immer irgendwie platt gesagt im gemeinsamen Haus mit einer Kinderschar und der eigenen Ziege bzw. später dann Kleinwagen. Die Option eines gemeinsamen Haushalts war hingegen in homosexuellen Partnerschaften nur nach dem Überwinden riesiger Hürden hinzubekommen. Ich denke mir, dass daher so mancher diesen Weg lieber aus seiner Lebensplanung verbannt hat und dann in die große Stadt abdampfte. Vielleicht normalisiert sich das ja mit der Zeit, wenn es ohnehin kein großes Thema mehr ist. Das wird allerdings schon so ein bis zwei Generationen dauern, wie so vieles andere auch…